10. April 1973, Dienstag: An uns, die Ehemaligen

Kurt Steimen sitzt an seiner Schreibmaschine. Viele von uns hat er nach der Zensurfeier nicht mehr gesehen. "Organisatorische Umtriebe" haben verhindert, dass er sich noch verabschieden konnte.  Er weiss: viele wird er wohl nie mehr sehen. Und er weiss auch: das Verhältnis zwischen ihm und uns war oft ein schwieriges. Mehr als einmal brachte er Teile der Klasse in Rage; einigen trieb er die Tränen in die Augen. Die Verletzungen waren tief. Jetzt ist es ausgestanden.

Kurt Steimen sitzt an der Schreibmaschine und denkt zurück an die vergangenen Jahre. "Positives und Negatives gehören in den Erlebniskreis einer vier Jahre dauernden Schüler-Lehrer-Gemeinschaft." 'Schüler' setzt er vor 'Lehrer'. Dass es schwierige Momente gab, weiss er. Dass er im Rückblick manches bedauert, das nehme ich an. "Nach dem Schmerz kommt die Tiefe, nach der Tiefe die Frucht."  

Den grössten Teil seines Briefes widmet er unseren beiden  'Aktionen'. Vielleicht hat er sich die letzten Jahre manchmal gefragt: wie können diese pubertierenden Spätkinder, die meinen Unterricht immer wieder sabotieren; die glauben, sich alles erlauben zu können; die sich um die Anweisungen der Lehrer foutieren: wie können diese gleichen SchülerInnen sich für das Wohl anderer einsetzen? Wie passt das zusammen, diese Schnoddrigkeit und ihr Idealismus? Widersprüche, Widersprüche!

Vielleicht schreibt Kurt Steimen in diesem Moment, an diesem Dienstagmorgen, nicht nur einen Brief an uns, sondern auch einen Brief an sich selbst. "Wohl wissend, dass scheinbar Negatives positiv wird, vor allem, wenn es zur persönlichen Verhaltensforschung und zu Ein-Sichten führt"?

Er hat uns nach der Zensurfeier verpasst. Jetzt reicht er uns schriftlich zum Abschied die Hand – uns, den Ehemaligen. Später hörte man, dass er ein anderer Lehrer geworden sei.