23. September 1971, Donnerstag: "Eine Rede, die nie gehalten wurde"

Wer am Donnerstag, dem 23. September 1971, den Bremgarter Bezirksanzeiger auffaltete und die Frontseite zu lesen begann, stiess zunächst auf einen Titel, der wenig würzig schien – und sich doch zum Bezirksschulskandal des Jahres auswachsen sollte: "Eine Rede, die nie gehalten wurde".

Bremgarter Bezirksanzeiger, 23.9.1971

Es gibt Sätze, die prägen sich einem ein und bleiben haften und werden zum geflügelten Wort. Noch Jahrzehnte später sprachen wir, wenn es um die Erlebnisse während der Bez ging, über die 'Rede, die nie gehalten wurde', und ärgerten uns. Und so war es fast, als treffe ich auf einen alten Bekannten, als ich in Aarau in der Kantonsbibliothek im Juni dieses Jahres im dicken Band, der sämtliche Ausgaben des Bezirksanzeigers von 1971 bündelt, umblätterte und auf den Titel stiess: Eine Rede, die nie gehalten wurde.

Abschrift aus dem Bremgarter Bezirksanzeiger vom Donnerstag, dem 23. September 1971. Hervorhebungen im Original.

"Eine Rede, die nie gehalten wurde

Eine Rede, die nie gehalten wurde, und nun von uns publiziert wird, muss etwas besonderes an sich haben. Ein junger Bursche, bald schulentlassen, bald reif, spricht zur Jugend. Doch was er vorträgt entspricht keineswegs der Reife. Dies verwundert umsomehr, als man zu einer Schülerrede nicht den Dümmsten verpflichtet. Und doch hat dieser Schüler im Religionsunterricht nichts, im Geschichtsunterricht nichts gelernt. Woher bezieht er seine Weisheit? Anstelle einer christlichen Weltanschauung und einer staatsbürgerlichen Erziehung steht ein Vakuum. (Red.)

Jugendfestrede
Von Röbi Müller, Widen, Bez. 3a

(Anmerkung: Im allgemeinen Festhüttenlärm und der drängenden Zeit musste am Jugendfest-Samstagnachmittag auf die Rede verzichtet und auf die Wiederholung des Bez-Theaters verschoben werden. Das OK-Präsidium).

Vor etwa 2 Wochen wurde ich gefragt, ob ich am Jugendfest eine kleine Rede halten würde. Ich willigte gerne ein. Nun stellte sich mir aber die Frage, über was ich denn eigentlich reden wollte. Ich habe mich dann entschlossen aus Anlass des Jugendfestes über die Jugend, also meine Generation zu sprechen.

Ich habe mich gefragt, wieso die ältere Generation die Jugend, und vor allem die heutige Jugend vielfach in ihrer Art des Denkens und Handelns nicht mehr begreifen kann?

Viele Leute fragen sich zum Beispiel, warum so viele Jugendliche lange Haare tragen, warum sie die heutige Wohlstandsgesellschaft verachten, warum sie plötzlich an Religion und Frieden zweifeln, warum sie auf die Strasse gehen und demonstrieren, warum sie sich in die Drogenwelt des Rauschgifts flüchten, warum viele plötzlich Militärdienst verweigern, warum sie sich für Antiautorität einsetzen, warum sie solch scheussliche Beatmusik hören, weshalb sie Pietät verachten, weshalb sie querolieren? Ich und viele meiner Kollegen und sicher auch viele Eltern haben sich diese Fragen schon gestellt. Um sie objektiv beantworten zu können, darf man sich nicht einfach eine Meinung darüber bilden, ohne sich vorher eingehend mit dem Thema befasst zu haben, das käme einem Vorurteil gleich. Man muss sich, um eine klare Antwort zu erhalten, einmal selbst unter diese Leute mischen und sie einmal selbst fragen: warum…

Vom demonstrierenden Studenten wird man vielleicht die Antwort erhalten, dass er es nicht recht fände, wenn gewisse südamerikanische Multimillionäre in ihrem Privathallenbad baden, während rund um sie das Volk verhungert und kaum etwas Rechtes anzuziehen hat. Wenn man sich die Sache recht überlegt, kann man ihm nicht einmal widersprechen, denn was er sagt, stimmt. Der Langhaarige wird vielleicht auf unsere Frage antworten, er trage lange Haare, weil er es schön fände und weil es Mode sei, vielleicht noch weil es seiner Freundin gefalle. Würde es momentan gefallen eine Glatze zu tragen, würde derselbe halt kahlköpfig durch die Welt marschieren. Wenn man einen andern frägt, warum er an der Religion zweifle, wird er unter Umständen antworten, dass im Namen Christi bis jetzt das meiste Unrecht auf Erden geschehen sei und deswegen könne er nicht mehr an einen gerechten Gott glauben. Auch ihm können wir nicht widersprechen, wenn wir an die Reformationskriege denken, an die Millionen von Indianermorden bei der Eroberung Südamerikas und an die Inquisition. Der Zweifler an unserem Frieden wird sich vielleicht auf den brasilianischen Erzbischof Dom Helder Camara berufen, der in seiner unterdessen bekannt gewordenen Rede sagte, dass unser Friede faul und erlogen sei, weil er auf Kosten der unterentwickelten Länder gehe. Auch ihm können wir nicht widersprechen. Der Rauschgiftsüchtige wird auf unsere Frage, warum er zur Spritze oder zu Joint gegriffen habe, antworten, er sei vom Leben enttäuscht worden, er sei in einem Waisenhaus aufgewachsen, sei dann von einem kinderlosen Ehepaar adoptiert worden, als er sich mit dreizehn Jahren die Haare nicht mehr schneiden lassen wollte, steckten ihn seine Adoptiveltern wieder in ein Heim, nur weil sie einen Sohn mit sauberem Haarschnitt wollten. Er hätte wegen der langen Haare auch keine Lehrstelle gefunden, und er sei geflüchtet. Wenn man sich diesen Lebenslauf anhört, kann man auch ihn plötzlich viel besser verstehen. Frägt man den Dienstverweigerer, warum er so gehandelt habe, wird er aussagen, dass durch Armeen und Militärs immer mehr Unrecht auf der Erde geschehe, dass Jahr für Jahr Millionen und Abermillionen für Waffen und Kriege ausgegeben werden, also um Menschen zu töten und das in einer Zeit, in der zwei Drittel der Erdbevölkerung hungern. Auch diesen wird die ältere Generation begreifen, wenn sie an den zweiten Weltkrieg zurückdenkt mit seinen Millionen von Toten. Fragt man den Beatmusiker, warum er sich gerade für diese Musik einsetze und sie so liebe und nicht für irgend eine andere Musik lebe, die einem persönlich vielleicht besser gefällt. Er wird antworten, dass er nach der Suche nach einer ehrlichen Musik war, keine Musik, die den Zuhörer in irgend eine unwahre Traumwelt versetze, eine Musik die objektiv ist, eine Musik die anklagt, eben eine ehrliche Musik. In der Beat- und Popmusik hätte er gefunden, was er gesucht hätte. Auch diesem Geschmack kann man meiner Meinung nach nicht widersprechen.

Zieht man am Schluss über Fragen und Antworten Bilanz, stellt man fest, dass einem vieles verständlicher geworden ist. Ich hoffe, Euch ist es so ergangen. Man stellt fest, dass verschiedene Meinungen vorhanden sind und sicher sieht man ein, dass es keinen Wert hat eine andere Meinung zu bekämpfen; man kann höchstens versuchen, den Betreffenden zu überzeugen. Versucht mit den Leuten ins Gespräch zu kommen, diskutiert mit ihnen. Versucht zu überzeugen oder lasst euch überzeugen, je nach dem."

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Das also die 'Rede, die nie gehalten wurde'.

Man muss ja nicht mit allem einverstanden sein, was Röbi da (nicht) gesagt hat.

Aber haut man einen Schüler auf der Frontseite derart in die Pfanne, wie es die 'Red.' hier tut? Vielleicht kann man sagen: die klare Ansage dient der Klarheit der Auseinandersetzung. Dann müsste aber dem Redner – Röbi – die Gelegenheit gegeben werden, Stellung zu nehmen. Und vielleicht könnte man auch noch sagen: wenn das Thema auf der Frontseite der Zeitung erscheint, nimmt die Zeitung das Thema und auch den Redner ernst. Könnte man sagen.

Aber wir hatten damals für solcherlei Überlegungen mit Sicherheit kein Verständnis. Wir haben wohl nur gedacht und gesagt: Spinned die?!!! Wir haben uns aufgeregt. Über den Ton des redaktionellen Kommentars, über den Inhalt, und über die Fehler: Röbi wohnte nicht in Widen, sondern in Berikon. Er ging nicht in die 3a, sondern in die 3b. Und die Klammerbemerkung des OK-Präsidiums, die der Rede vorangestellt ist, hätte der 'Red.' mindestens Anlass sein müssen, noch kurz zu recherchieren, ob die Rede tatsächlich nicht gehalten wurde oder eben doch, wenn auch verspätet, am 17. September, zusammen mit der Zweitaufführung des 'Hans, der andere Kappen hat gewollt' (siehe den Nachtrag zum Jugendfest).

Aber nicht nur wir regten uns auf. Auch andere regten sich auf (Fortsetzung folgt).

PS: In dieser aufgeladenen Stimmung ging eine andere Nachricht in der gleichen Ausgabe des Bezirksanzeigers völlig unter, die auch einen aus unserer Klasse betraf: Dani war, nach seinem Sieg im Vorjahr, in Berikon erneut Schüler-Olympiasieger geworden!

Bremgarter Bezirksanzeiger, 23.9.1971