25. Oktober 1972, Mittwoch: Vortragen vor der Klasse

Wohl das längste Wort, das ich in der Bez gelernt habe, samt Abkürzung: Lysergsäurediethylamid. LSD. Das Wort war so lang und so kompliziert, dass ich es vermutlich 77 Mal vor mich hin gesagt habe, bis es im Kopf war. Und dort ist es geblieben, bis heute.

Drogen waren während unserer Zeit an der Bez nicht gerade allgegenwärtig, aber doch ziemlich präsent. In der Gesellschaft, in der Schule. In jener Zeit ist auch gerade der amerikanische Drogen-Guru Timothy Leary in der Schweiz: er wehrt sich hier gegen ein Auslieferungsgesuch der US-Behörden, die ihn wegen Drogendelikten verurteilt haben. Im August 72 berichten die Medien darüber, dass Leary zwar nicht ausgeliefert wird, bis Ende Jahr aber die Schweiz verlassen müsse. Kein Kanton will ihm eine Aufenthaltsbewilligung geben.

In der Vierten haben wir längere Vorträge vorbereiten müssen, zu zweit. Röbi und – ich meine – Alfi haben uns Näheres erzählt zum Thema Drogen. Eben: Lysergsäurediethylamid.

Dani und ich, wir haben uns an 'Die Eroberung des Weltraums' gemacht.

35 Seiten Text, handschriftlich, plus Titel und Inhaltsverzeichnis.

Was uns damals ganz offensichtlich nicht bewusst war: dass man Vorträge nicht wie schriftliche Fachartikel schreiben sollte: "Das Wissen über die bis zum heutigen Tag noch nicht restlos ergründeten Bewegungen und Gesetzmässigkeiten des Sternenhimmels war bei einigen, auf hoher Kulturstufe stehenden Völkern des Altertums besonders fortgeschritten." So beginnt der Vortrag. Nicht gerade attraktiv zum Zuhören.

Das Einleitungskapitel: 'Ein Wissensschatz aus 5000 Jahren'. Leute, die dort wohnten, wo heute China, Indien, Irak, Ägypten, Mexiko, Griechenland liegen, schauten in den Himmel und beobachteten gewisse Regelmässigkeiten. Im Kosmos kreisen die Planeten um die Erde. Später Kopernikus und Kepler, die Sonne rückt in den Mittelpunkt. Galilei sieht mit seinem Fernrohr Gebirge auf dem Mond. Dann, mit Bleistift eingezeichnet, ein erstes Mal: 'Pause'

Newton "stellte die Gesetze der Himmelsmechanik auf", ohne die "die Weltraumfahrt überhaupt nicht möglich wäre". Die Entwicklung der Technik verläuft rasant. "Das Wissen über die Beschaffenheit unserer Erde und des sie umgebenden Weltraums erreichte in dem Jahrhundert, in dem wir leben, einen Stand, den hundert Jahre zuvor niemand zu prophezeien gewagt hätte."

Schon recht dramatisch der Einstieg ins zweite Kapitel (heute würde man sagen: 'Storytelling'): "12. April 1961 10 Uhr morgens. Aus den Lautsprechern in und um Moskau ertönt volkstümliche Musik. Plötzlich aber wird ausgeblendet. Schmetternde Fanfarenstösse setzten ein." Die Sowjetunion hatte Juri Gagarin ins All geschossen (in Klammern nur: 50 Jahre nach Gagarins Flug habe ich mich beim Radio noch einmal mit dem Ereignis befasst). "Auf den Strassen in Moskau und den andern Städten fielen sich wildfremde Menschen in die Arme und beteuerten einander, wie glücklich sie seien, zu diesem erfolgreichen Volk zu gehören, das an der Spitze des Fortschritts marschiere."

Dann: Baikonur, das sowjetische Pendant zu Cape Kennedy in den USA. Und damit verbunden die Frage, wo man Raketen starten lässt. Dort nämlich, wo "die Flugbahnen der Geschosse nicht über dichtbesiedelte oder verkehrsintensive Gebiete hinwegführen." Und dann müssen die Raumkapseln auch wieder zur Erde zurück: die Amerikaner haben genügend angenehm warmes Wasser in der Nähe, deshalb wassern ihre Kapseln; jene der Sowjets dagegen landen mangels geeignetem Wasser an einem einsamen Ort auf der "grossen asiatischen Landmasse".

Hätten wir damals schon, bei unserem Vortrag im Herbst 72, die Worte von US-Präsident Kennedy vom Mai 1961 in Bild und Ton präsentieren können? Ich weiss es nicht.

Video-Ausschnitt: John F. Kennedy im US-Kongress, 25.5.1961

So haben wir Kennedy einfach zitiert.

… 'und kein Projekt wird so schwierig und so teuer sein', müsste man unseren Text korrekterweise ergänzen.

Bis zum von Kennedy genannten Termin, bis Ende des Jahrzehnts, blieben gut acht Jahre. "Für die Männer an der Spitze der Weltraumbehörde, die sich zu einer der grössten denkbaren Aufgaben verpflichtet hatten, schien diese Frist äusserst knapp zu sein. Für sie begann die Zeit zu rennen."

Am 5. Mai 1961 hatten die Amerikaner Alan Shepard in einer Mercury-Kapsel ins All geschossen, allerdings nur für 15 Minuten; keine Erdumkreisung. Das kam dann aber bald.

Im März 65 beginnt die nächste Etappe: die zweiplätzigen Gemini-Kapseln lösen die Mercury-Einplätzer ab. Bei Gemini 4 steigt einer der Astronauten aus der Kapsel aus. Gemini 6 und 7 koppeln aneinander an. Alles bestens.

Dann der Rückschlag: Am 27. Januar 1967 – ich war gerade 10 geworden und las und hörte die Berichte mit Schrecken – verbrennen die drei Astronauten von Apollo 1 bei einem Test in ihrer Kapsel an der Spitze der Saturn-Rakete. Es dauert fast zwei Jahre, bis der erste bemannte Start einer Apollo-Kapsel gelingt – es ist dann Oktober 1968.

Doch auch die Sowjets werden zurückgeworfen: Im April 67 verunglückt die Kapsel Sojus 1 bei der Rückkehr zur Erde, der Kosmonaut kommt ums Leben.

Nächstes Kapitel: 'Mit Apollo zum Mond'. "Ärzte, Psychologen, und Techniker der Weltraumbehörde waren sich von Anfang an darüber klar, dass für die Aufgabe, mit Raumschiffen in den Weltraum vorzudringen, keine Supermänner, aber doch recht robuste Burschen benötigt wurden." Nicht grösser als 1.82, nicht schwerer als 83 Kilo. Und dann ein happiges Trainingsprogramm, unter anderem in einer Zentrifuge. Das erhöht die Schwerkraft, "kleinere Gefässe können platzen, Zähne scheinen aus dem Mund zu spritzen und manchmal tritt Bewusstlosigkeit ein." Dazu zeigen wir Bilder aus einem Buch, das wir zum Vortrag mitgebracht haben. Ich glaube, hier sind wir ziemlich anschaulich gewesen.

Ab Herbst 68 geht es dann Schlag auf Schlag – und im Frühjahr 69 kommen wir in die Bez. "Da ihr in den letzten 3 bis 4 Jahren sicher die wichtigsten Phasen mitverfolgt habt, werden wir hier nicht auf Details eingehen. Hier eine kleine Zusammenfassung: …", steht in unserem Vortrag. Ein Teil davon: die erste Landung auf dem Mond am 21. Juli 1969.

Wir schieben die Bedeutung der Mondlandung den Kommentatoren zu: Millionen hätten fieberhaft das Ereignis mitverfolgt, diese "grösste technische Leistung aller Zeiten", das "Abenteuer des Jahrhunderts".

"Das war vor gut drei Jahren". Bis zum Zeitpunkt unseres Vortrags waren nach Armstrong und Aldrin weitere acht Astronauten auf dem Mond. "Damit aber wurde der Mondflug für viele unserer Zeitgenossen zur Selbstverständlichkeit, zu einer Alltäglichkeit beinahe, die kaum noch Beachtung verdient." "Jedesmal, wenn eine bemannte Kapseln in Richtung Mond abhebt, können die NASA und Amerikas Steuerzahler wieder ein paar hundert Millionen Dollar als ausgegeben abhaken, als 'verpulvert', wie der stärker gewordene Chor der Kritiker und Gegner der Raumfahrtforschung bemerkt."

Doch ist es wirklich 'verpulvert'?, fragen wir rhetorisch. Nur um gleich dagegen zu halten: "Wo (…) Wissenschaft und Forschung gefördert werden und blühen, wo Lehre und Technologie sich eines Höchststandes erfreuen und nicht zu den Stiefkindern einer Nation gehören, finden wir einen hohen, sich ständig verbessernden Lebensstandard der Bevölkerung."

Wir räumen in unserem Vortrag zwar ein, dass die USA neben dem höchsten Lebensstandard gleichzeitig auch Armut und soziale Probleme hätten, und zwar "wie Sand am Meer". Doch wir wenden gleich ein: die USA hätten 1969 für soziale Programme 65 Milliarden Dollar ausgegeben, für die Weltraumforschung 4,2 Milliarden; im Jahr 1972 laute das Verhältnis 100 Milliarden zu 3,7 Milliarden. Ausserdem kämen 'Abfallprodukte' aus der Weltraumforschung sehr vielen Menschen zugute: Satelliten gäben Aufschlüsse über die Beschaffenheit der Erdoberfläche, vermittelten Nachrichten rund um die Welt und erleichterten so "Erziehung und Bildung von Millionen Menschen"; die Wettervorhersagen könnten verbessert, vor Naturkatastrophen gewarnt werden; Feuerwehren und Rettungskräfte verwendeten schützendes Material, das von der NASA entwickelt worden sei. Gelähmte könnten allein durch ihren Blick in eine Spezialbrille ihren Rollstuhl steuern oder "die Seiten eines vor ihnen liegenden Buches umblättern", und dank den Satelliten, die ins All gebracht würden, werde das Telefonieren "In ein paar Jahren (…) weltweit gebührenfrei sein". Und wenn wir schon beim Blick in die Zukunft sind: "In einigen Jahren können in der Schwerelosigkeit von Raumstationen Medikamente hergestellt werden, die sich auf der Erde mit ihrer Anziehungskraft überhaupt nicht produzieren lassen."

Und so schliessen wir unseren Vortrag optimistisch und zukunftsfroh: "Unser aller Zukunft und Wohlergehen hängt in nicht geringem Masse von den wissenschaftlichen und Technologischen Erkenntnissen ab, die uns die Weltraumforschung beschert."

Zeitgeist? Welle, die zumindest einen guten Teil der Menschen damals trug? Wir dachten und sagten es: es geht in eine gute Richtung, das Leben wird besser.

Heute kleben junge Leute ihre Hände an alte Bilder und rollen Transparente aus mit der Aufschrift 'Letzte Generation' oder 'extinction rebellion', und Greta Thunberg sagt, unser Haus stehe in Flammen. Es geht in die falsche Richtung, sagen sie, das Leben wird schlechter.

*

PS1: Woher hatten wir eigentlich all das, was wir hier vortrugen? Und wie sind wir mit diesen 'Quellen' umgegangen? Von einem transparenten 'wissenschaftlichen' Zugang, wie ich ihn später an der Uni gelernt habe, kann natürlich keine Rede sein. Wenn ich den Vortrag heute lese, dann scheint mir das meiste recht gut 'arrangiert'; aber nicht selten sind es einfach Sätze oder kurze Textpassagen, die aus Büchern oder Zeitungen und Zeitschriften stammen.

Ich war begeistert von diesem Wettlauf ins All, und so habe ich auf die Seite gelegt, was mir in die Hände kam. Und wenn etwas auf der Seite liegt, dann bleibt es dort, wenn man es nicht wegwirft. Und da ich im Wegwerfen nicht gut war (und es, wie mir immer wieder gesagt wird, immer noch nicht bin), so ist nicht nur unser Vortrag all die Jahre erhalten geblieben, sondern – in einer ganz andern Kiste – auch die Quellen sind noch da, zumindest in Teilen.

Da ist etwa die Schweizer Illustrierte vom 10. April 1972, die kurz vor dem Start von Apollo 16 erschien:

Da findet sich, aus der Titelgeschichte, auf Seite 46 folgender Ausschnitt:

Und dieser Text steht, wie im Original vorgeplant, auch in unserem Vortrag:

Als Quelle diente auch ein Artikel aus dem Tages-Anzeiger vom 25. Juli 72, den wir nutzten, um aufzuzeigen, was die Weltraumforschung der Allgemeinheit bringt:

Auch hier haben wir einen Text-Ausschnitt, der uns passend schien, einfach übernommen.

Eben: keine 'wissenschaftliche' Arbeit, in der genau zitiert und die Quelle angegeben werden muss. Das war noch nicht Thema gewesen bei Caduff. Und das Wort 'Plagiat' noch ein Fremdwort für uns.

PS2: Schon noch speziell: Alle sechs Landungen von Menschen auf dem Mond – vom Juli 69 bis zum Dezember 72 – sind exakt in die Zeit gefallen, in der wir in der Bezirksschule waren. Seither war niemand mehr dort.