10. Mai 1972, Mittwoch: Erster Aufsatz, Thema Film

Wenn ich Freunde treffe, dann kommt früher oder später sicher auch die Frage auf: bisch wideremol im Kino gsi? Das ist eine Frage aus alten Zeiten. Heute hört man Fragen nach Kino-Besuchen nicht mehr so oft. Jüngere und viele, die früher ins Kino gingen, haben das Kino in die eigene Stube gezügelt und schauen zu Hause Filme und Serien. Entsprechend ist auch die Bedeutung des Kinos geschrumpft. Während es 1972 in der Schweiz noch 540 Kinos gab mit 199'782 Sitzplätzen, so betrug die Zahl der Kinos 2021 noch 257 mit 98'695 Sitzplätzen. Sowohl die Anzahl Kinos als auch die Anzahl Sitzplätze haben sich halbiert.

Es hat sich aber auch noch etwas anderes gewandelt, was das Kino-Erlebnis verändert hat: In den 540 Kinos im Jahr 1972 gab es praktisch gleich viele Kino-Säle, nämlich 542. In den 257 Kinos 2021 waren aber 603 Kinosäle untergebracht. Multiplex-Kino heisst das, vor 50 Jahren noch unbekannt. Das hat natürlich einen Einfluss auf die Anzahl Sitzplätze pro Saal. Die Rechnung ist schnell gemacht: Durchschnittlich konnten im Jahr 1972 in jedem Saal 368 Leute sitzen und sich einen Film anschauen; im Jahr 2021 waren es noch 163 Sitze pro Saal. Kino findet zunehmend in Schuhschachteln statt.

Ich weiss noch, wie mir Tränen kamen, Tränen der Trauer und Tränen der Wut, als 1988 die Bankgesellschaft (SBG, heute UBS) das Züricher Kino Apollo übernahm. Alle Proteste nützten nichts. Die Banker ersetzten die Kinosessel durch Bürostühle und die grosse Leinwand durch viele kleine Computerbildschirme. Das Apollo! Ikone eines Kinopalasts! Die Leinwand war gigantisch! 20 Meter breit, 9 Meter hoch. Und im Saal sassen 1700 Personen!

Heute gibt es Leute, die Filme auf ihrem Smartphone schauen. Das kann man, natürlich. Die Wirkung ist allerdings nicht die gleiche. Und gewisse Filme sollte man nicht auf dem Smartphone schauen, auch dann nicht, wenn man es könnte. 2001: A Space Odyssey etwa, oder Titanic, oder: Ben Hur. Das Wagenrennen auf dem 6-Zoll-Bildschirm? Für solche Filme ist nur die grösstmögliche Leinwand gut genug.

Wir sind schon in der Bez ins Kino gegangen. Das wusste allem Anschein nach auch Lehrer Caduff, denn das Thema des ersten Aufsatzes in der 4. Klasse lautete: 'Warum ein Film mich beeindruckte'. Vielleicht gab es noch andere Themen, ich weiss es nicht, Pia und ich haben beide über dieses Thema geschrieben.

Was hat uns beeindruckt?

Pia berichtet über den Film My Fair Lady, den sie sich mit Irene zusammen in Zürich angeschaut hatte. Die Musik hat sie begeistert, "sie war wirklich einmalig"; die Art und Weise, wie sich Audrey Hepburn und Rex Harrison "in die Rollen versetzt haben und sie mit Hingabe gespielt haben"; die "schönste und zugleich eindrücklichste Szene des ganzen Films" sei aber jene gewesen, als Elise (A.H.) Mr. Higgins (R.H.) "mal richtig ihre Meinung" gesagt habe. "Danach musste Mr. Higgins einsehen, dass er Elise gar nie als Menschen betrachtet hatte, sondern nur als Werkzeug, um sein Können unter Beweis zu stellen."  

Ben Hur ist das Wagenrennen. Aber Ben Hur ist nicht nur das Wagenrennen.

Aufnahme aus dem Film Ben Hur

Ben Hur ist auch die Seeschlacht zwischen einer römischen und einer karthagischen Flotte. "Plötzlich befinden wir uns" – so heisst es in meinem Aufsatz – "unter Deck bei den Sklaven, die Trommel ertönt laut und regelmässig und dazu die Peitsche, die ab und zu auf die Rücken der schweissüberströmten Ruderer niedergeht. Es ist finster, nur ein paar Laternen baumeln hin und her. (…) Die Atmosphäre ist hektisch, Sklaven schreien auf und dazu die in regelmässigen Abständen ertönenden Trommelschläge. (…) Sie wirken wie ein Countdown, der zum Tode führt."

Man werde während der Szene "richtig in den Sitz gepresst. Das Ganze ist so natürlich gespielt, dass man wirklich meint, man sei dabei." Aber eben: "Es kommt natürlich auch darauf an, wo man den Film sieht. Wäre er im Fernsehen gekommen, er hätte mit Sicherheit nicht so überzeugend gewirkt wie im Kino."