'Geschichte' im Wandel der Zeit

Eigentlich wollte ich nur einen Blick in die offiziellen 'Vorgaben' von damals und heute werfen: worum ging, geht es im Geschichtsunterricht. Dann bin ich hängengeblieben.

Der 'Lehrplan für die Bezirksschulen des Kantons Aargau' von 1972 ist eine schmale Broschüre von 46 Seiten. Der 'Aargauer Lehrplan Volksschule' von 2018 deckt zwar nicht nur die Bezirksschule, sondern die ganze Volksschule ab. Aber er ist wohl nicht nur deshalb ziemlich viel umfangreicher geworden: 526 Seiten sind es.

Was steht in diesen beiden Dokumenten zum Fach Geschichte?

Der Lehrplan von 1972

Der 'Lehrplan für die Bezirksschulen' von 1972 handelt die 'Geschichte' auf den Seiten 21 bis 25 ab. Zuerst das "Ziel" des Unterrichts der damals vier Jahre, dann etwas zum "Weg", wie der Inhalt vermittelt werden soll, und schliesslich, nach Klassen unterteilt, die eigentlichen Inhalte des Geschichtsunterrichts, der "Stoff".

Der Abschnitt zur vierten Klasse mit "Gegenwartskunde" überschrieben.

"Ziel
Im reifer gewordenen Schüler, dem künftigen Staatsbürger, ist das Interesse für das Zeitgeschehen in der Heimat und der weiten Welt zielbewusst zu wecken. Sein Sinn für geschichtliche, wirtschaftliche und politische Zusammenhänge, sein Verständnis für die historisch entstandene Gegenwart sollen geschult werden, sein persönliches Urteilsvermögen reifen.

Die Gegenwartskunde bereitet den Weg für den systematischen Staatsbürgerlichen Unterricht an den Berufs- und Mittelschulen.

Weg und Stoffe
Da die Gegenwart und deren Probleme nur aus den Geschehnissen der Vergangenheit heraus zu verstehen sind, hat der Lehrer vorerst die historischen Grundlagen unseres Jahrhunderts zu vermitteln. Er kann dabei den chronologisch aufgebauten Geschichtsunterricht der ersten drei Klassen fortsetzen oder aber vom wohlüberlegt ausgewählten Gegenwartsproblem ausgehen und zurückblenden auf die historischen Grundlagen unseres Zeitgeschehens. Mosaikartig und Akzente legend setzt er so das historische Bild unseres Jahrhunderts zusammen. Wesentlich ist, dass die Schüler für die nähere und weitere Umwelt interessiert, zum Fragen, Diskutieren und eigenen Nachforschungen angeregt und angehalten werden. Dabei sind auch die schweizerischen Verhältnisse der letzten Jahrzehnte zu beleuchten und das Interesse für unsere nationalen Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben zu wecken."

Und schliesslich die Inhalte in der vierten Klasse:

Lehrplan 1972, Geschichte, 4. Klasse

Soweit der 'Plan' damals.

Der Lehrplan heute

Sucht man 2022 im Lehrplan der Volksschule des Kantons Aargau nach dem Fach Geschichte, so kann man lange suchen. Es gibt das Fach nicht mehr. Themen, die zum Fachbereich Geschichte gehören, sind im Fach 'Natur, Mensch, Gesellschaft' (NMG) aufgegangen. Dieses Fach zieht sich durch von der ersten bis zur 9. Klasse. In den letzten drei Jahren – der Stufe mit der Bezirksschule – wird NMG aber, im Gegensatz zu den ersten 6 Jahren, weiter unterteilt in Vier Untergruppen: 

    • NT: Natur und Technik (mit Physik, Chemie, Biologie)
    • WAH: Wirtschaft, Arbeit, Haushalt (mit Hauswirtschaft)
    • RZG: Räume, Zeiten, Gesellschaften (mit Geografie, Geschichte)
    • ERG: Ethik, Religionen, Gemeinschaft (mit Lebenskunde)

Aha. Hier, in der Verästelung der Verästelung, in der Unterschublade RZG der Oberschublade NMG, taucht der Begriff 'Geschichte' doch noch auf.

Zu 'Bedeutung und Zielsetzungen' des Bereichs 'Natur, Mensch, Gesellschaft' (Seite 258) ist zu lesen: "Im Zentrum von Natur, Mensch, Gesellschaft steht die Auseinandersetzung der Schülerinnen und Schüler mit der Welt". Und weiter: "Um sich in der Welt orientieren, diese verstehen, sie aktiv mitgestalten und in ihr verantwortungsvoll handeln zu können, erwerben und vertiefen sie grundlegendes Wissen und Können. Sie erweitern ihre Erfahrungen und entwickeln neue Interessen.

Die Schülerinnen und Schüler lernen, sich mit natürlichen Erscheinungen, unterschiedlichen  Lebensweisen, vielfältigen gesellschaftlichen und kulturellen Errungenschaften aus verschiedenen Perspektiven auseinanderzusetzen. Sie entwickeln eigene Sichtweisen auf die Welt, lernen zukünftigen Herausforderungen zu begegnen sowie Erfahrungen, Strategien und Ressourcen nachhaltig zu nutzen und ihr Handeln zu verantworten. Ausgangspunkte für das Lernen bilden Vorstellungen, das Vorwissen und bisherige Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler von und über die Welt. Lernen in der Schule wird mit ausserschulischen Erfahrungen verbunden."

Und unter 'Inhaltliche Perspektiven auf die Welt' steht bei 'Räume, Zeiten, Gesellschaften' (Seite 260):

"In der Perspektive Räume, Zeiten, Gesellschaften entwickeln und erweitern die Schülerinnen und Schüler ihre Kompetenzen zu räumlichen, historischen, gesellschaftlichen und politischen Themen. Sie machen sich eigene Vorstellungen zu Raum und Zeit bewusst, lernen neue Sichtweisen kennen, erschliessen und verarbeiten entsprechende Informationen. Die Schülerinnen und Schüler setzen sich
mit Zusammenhängen und Beziehungen zwischen natürlichen Gegebenheiten und gesellschaftlichen Aktivitäten aus verschiedenen Räumen der Welt auseinander. Sie können sich so in der Welt räumlich und thematisch orientieren.

 In der Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Zeit, mit Dauer und Wandel, mit der Entwicklung von Menschen und Gesellschaften lernen die Kinder und Jugendlichen den Unterschied zwischen Geschichte und Geschichten kennen und erfahren, dass wir immer aus der Gegenwart heraus Vergangenes rekonstruieren, um Orientierung für die Zukunft zu gewinnen. Diese Sinnbildung geschieht in den Dimensionen Herrschaft, Wirtschaft und Kultur und umfasst damit Individuen und Gesellschaften als Ganzes.

 Auf diese Weise lernen Kinder und Jugendliche, sich im Raum, in der Zeit, in der Gesellschaft und in der Beziehung von Menschen zu ihrer natürlichen und gestalteten Umwelt zu orientieren. Sie werden dazu befähigt, bei der Gestaltung und Bewahrung der räumlichen Lebensgrundlagen mitzuwirken, in der Gegenwart zu handeln und sich Gedanken zur Zukunft sowie zu einer nachhaltigen Entwicklung
auf lokaler, regionaler und globaler Ebene zu machen
."

Ab Seite 272 gibt der Lehrplan 'Strukturelle und inhaltliche Hinweise' zum Fachbereich 'Natur, Mensch Gesellschaft'.

Das Unterkapitel zu 'Räume, Zeiten, Gesellschaften' listet verschiedene 'Kompetenzbereiche' und 'Themenfelder' auf. Unter anderem:

Kompetenzbereich [zum Bereich Geschichte]:
"Die geschichtlichen Kompetenzbereiche spiegeln die gängige Aufteilung nach Schweizer Geschichte, Weltgeschichte, Politischer Bildung und Geschichtskultur. Der Kompetenzbereich zur Schweizer Geschichte ist nach Herrschaft, Wirtschaft und Kultur, derjenige zur Weltgeschichte entlang der Chronologie gegliedert. Im Kompetenzbereich zur Geschichtskultur werden je unterschiedliche Möglichkeiten und Wege aufgezeigt, wie geschichtliches Wissen vermittelt und Erkenntnisse erarbeitet werden können. Bei der Politischen Bildung stehen die Basiskonzepte Demokratie und Menschenrechte im Zentrum." (Seite 277)

Themenfelder [zum Bereich Geschichte]:
"Weil für geschichtliches Denken die Orientierung in der Zeit eine zentrale Grundlage bildet, geschieht die Themenauswahl zu den Kompetenzbereichen zur Schweizer Geschichte, zur Weltgeschichte und zur Politischen Bildung in erster Linie gemäss dem chronologischen Ordnungsprinzip. Parallel und ergänzend dazu werden Vergleiche ermöglicht, die die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen als historisches Strukturprinzip verdeutlichen. Im  Kompetenzbereich 'Geschichtskultur analysieren und nutzen' wird in der Regel nicht ein eigenes Thema gewählt, sondern die Entwicklung und Erarbeitung der hier festgelegten Kompetenzen geschieht bei denjenigen Themen der anderen Kompetenzbereiche, die sich dafür gerade anbieten. Dies verstärkt die Lebensweltorientierung des Unterrichts." (Seiten 277-278)

Konkretere Inhalte zum Fachbereich 'Geschichte' mit Zielen und Unterzielen finden sich im Kapitel zu 'Natur, Mensch, Gesellschaft' ab Seite 309: "NMG.9 Zeit, Dauer und Wandel verstehen – Geschichte und Geschichten unterscheiden". Exemplarisch hier das Unterziel 9.3:

Lehrplan 2018, Seite 310

Zum Verständnis:

    • Der orange Teil deckt die Zeit des Kindergartens und der ersten beiden Primarklassen ab; der blaue Teil die 3. bis zur 6. Primarklasse; und der grüne Teil betrifft die letzten drei Jahre der Volksschule.
    • Das Aargauer Kantonswappen steht dort, wo der Aargauer Lehrplan Anpassungen vorgenommen hat gegenüber dem 'Lehrplan 21', der als Grundlage für viele Kantone gilt.
    • Die rot gepunktete Linie: sie gibt an, was bis zum Ende der 4. Klasse bzw. bis zur Mitte der 8. Klasse verbindlich bearbeitet werden muss.

Die Unterkapitel ab Seite 361 listen sodann Ziele und Unterziele für 'Räume, Zeiten, Gesellschaften' auf:

    • 5: Schweiz in Tradition und Wandel verstehen
    • 6: Weltgeschichtliche Kontinuitäten und Umbrüche erklären
    • 7: Geschichtskultur analysieren und nutzen
    • 8: Demokratie und Menschenrechte verstehen und sich dafür engagieren

Ein Beispiel: RZG.7.3:

Lehrplan 2018, Seite 366

Nun, was sagt uns dieser kurze Vergleich zwischen den beiden Lehrplänen von 1972 und 2018? Etwas salopp ausgedrückt:

    1. Während Laien den Lehrplan von 1972 aufschlagen und sich schnell und mühelos ein Bild machen konnten, wird der Lehrplan von 2018 erst dann (vermutlich) wirklich verständlich, wenn man sich eingehend damit beschäftigt. Der Lehrplan ist 'wissenschaftlich' geworden: mit entsprechenden Differenzierungen, entsprechender Systematik und entsprechender Fachsprache.
    2. Damit verbunden die Fragen: an wen richtet sich der Lehrplan heute? Wer soll ihn lesen? Und wie war es vor 50 Jahren?
    3. Standen 1972 'Inhalte' im Vordergrund, so sind es 2018 'Kompetenzen'. Es geht nicht mehr primär darum, welcher Stoff behandelt wurde, sondern darum, was die SchülerInnen nach dem Unterricht können müssen.
    4. Damit verbunden die Fragen: Wie hat sich der Unterricht verändert – für SchülerInnen wie für LehrerInnen? 'Können' die SchülerInnen heute mehr, und 'wissen' sie dafür weniger?
    5. Die Themenfelder bzw. Ziele werden im Lehrplan von 1972 den einzelnen Klassen zugewiesen; 2018 ist dies nicht mehr der Fall. Der neue Lehrplan gibt aber vor, was bis zur Mitte der 8. Klasse bearbeitet werden muss.
    6. Die Ansprüche an die Schule (LehrerInnen, SchülerInnen) haben im neuen Lehrplan eine ziemliche Höhe erreicht: zwischendurch wurde mir beim Lesen leicht schwindlig.

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Veröffentlicht: 28. August 2022