30. April 1970, Donnerstag: Die Namen in den Büchern

Wir bekommen heute im Rechnen ein neues Buch.

Es scheint ein recht neues Buch zu sein an der Bez Bremgarten – am Elternabend der Zweitklässler am 15. September 1970 wird das Buch jedenfalls vorgestellt. Das steht in der zweiten Nummer der Schülerzeitung, die im Sommer dann erscheinen wird.

Wie auch immer: zuerst, wie bei jedem Buch, das wir in der Schule bekommen: Im vorderen Umschlagdeckel die Etikette einkleben und ausfüllen: Name, und heutiges Datum: 30.4.1970.

Und wenn man das Buch dann nicht mehr brauchte nach einem Jahr oder zwei, füllte man das Datum der Rückgabe ein und gab es zurück. Die Bücher wurden eingesammelt, der Lehrer sperrte sie über die Frühlingsferien in einen Schrank und nahm sie später wieder hervor, zu Beginn des nächsten Schuljahres. Damit der nächste Schüler, die nächste Schülerin es benutzen konnte. Es war aber auch möglich, das Buch zu kaufen. Ob das oft geschah?

Die Bücher waren jedenfalls oft sehr lang in Gebrauch, wie etwa dieses Pflanzenkundebuch:

Wenn der Lehrer dann durch die Reihen ging und die alten neuen Bücher verteilte, dann sah man natürlich immer, wer das Buch vorher gehabt hatte. Und wir schauten, ob wir die Schülerinnen und Schüler kannten. Und oft kannten wir sie, wenn auch meist nur vom Sehen.

Ich weiss nicht mehr ganz sicher, wann es passierte, welcher Frühling gerade begonnen hatte – und doch nehme ich an, dass es Anfang der zweiten Klasse war; ich weiss nicht mehr sicher, in welchem Zimmer ich sass und welcher Lehrer es war, der eben durch die Reihen ging und die alten Bücher austeilte, mit der Aufforderung, unsere Namen im neuen Buch einzutragen. Kann es sein, dass es Grossholz war? Und welches Fach? Geschichte?

Ich glaube, mich zu erinnern, wie es war, als ich den Namen des Mädchens im alten Buch sah. Wie jetzt noch im späten Echo schoss mir die Hitze in den Kopf. Vielleicht habe ich das Buch gleich wieder zugemacht, damit es nicht auffällt, dass ich nicht bei Sinnen war. Vielleicht habe ich versucht, all die Gedanken zu ordnen, die mir durch den Kopf rasten. Und vielleicht ist mir gleich dort, beim ersten Anblick, der Gedanke gekommen: dieses Buch, diesen Namen gibst du nicht mehr her. Vielleicht ist schon da der Gedanke gekommen, der Etikette Gewalt anzutun und den Namen herauszulösen aus dem Buch.

Der Name: schön ordentlich, Vorname und Nachname je in einem Zug durchgeschrieben, ohne neues Ansetzen nach einem Buchstaben. Nicht schwungvoll, dafür war der Name noch zu sehr in der Schulschrift gefangen. Alles bündig auf den schwarzen Punkten. Wie alt war sie da, als sie ihren Namen in jenes Buch eintrug? Dreizehn? Und ich, als ich ihn wieder herausnahm? Dreizehn?

Die Etikette wehrte sich, als ich schnitt und schabte, war zu sehr verleimt mit dem Buch, wollte nicht, dass ich die blaue Schrift herauslöse, den magischen Namen. Doch dann war der Name nicht mehr im Buch, und ich versorgte den Schatz fein säuberlich.

Im Buch, im vorderen Deckel, klaffte eine Lücke in der Etikette, als der Name weg war. Was passierte dann? Ich weiss es nicht mehr. Vielleicht, so stelle ich mir vor, habe ich meinen eigenen Namen an die Stelle gesetzt, wo ihrer nicht mehr war. Und habe das Buch am Ende des Schuljahres wieder abgegeben, mit seiner Narbe, und ein weiterer Schüler hat seinen Namen darin eingetragen, hat vielleicht nicht einmal bemerkt, dass das Wichtigste im Buch fehlte, hat darin gelesen, daraus gelernt, und es weiter gegeben, bis die Etikette voll war und mit einer neuen überklebt werden musste, oder bis das Buch zu alt war und aus dem Verkehr gezogen wurde. Es ist wohl schon längst verbrannt worden oder geschreddert. Ein Teil davon aber ist noch heute in meinem Kopf.