Mein Zimmer – die 'Fotografie'

Es gibt Fotos, die sind eigentlich gar nicht entstanden. Weil sie gar nicht entstehen sollten. Weil der einzige Zweck des Abdrückens darin bestand, den Film aufnahmebereit zu machen.

Die Filmpatronen waren einzeln verpackt – vor meinem inneren Auge leuchtet das Kodak-Gelb, darauf die schwarze Schrift. Aus dem Blech-Büchslein schaute der Anfang des Filmstreifens hervor. Die Kamera öffnen, das Büchslein in die Mulde auf der linken Seite legen, dann den Film-Anfang aus dem schmalen Schlitz herausziehen, der mit einem feinen schwarzen Gewebe auf beiden Seiten einerseits den Film vor Kratzern schützte, andererseits dafür sorgte, dass möglichst kein Licht ins Innere der Büchse drang. Denn sobald der Film aus der Büchse war, war er belichtet – und damit für eine mögliche Fotografie verloren. Ideal war natürlich, den Film-Anfang nur gerade so weit aus der Büchse zu ziehen, dass er gerade genügend stabil in der Aufwickelspule auf der rechten Seite fixiert werden konnte. Zog man zu wenig, transportierte die Spule den Film nicht; und zog man zu viel, verschwendete man wertvolle Negativ-Fläche.

Wenn der Film nun eingespannt war und das Gehäuse wieder verschlossen: dann war ja dort, wo der Film belichtet werden konnte, nämlich zwischen dem Film-Büchslein und der Aufwickelspule, noch ein ganzes Stück bereits belichteter Film. Damit dort unbelichteter Film hinkam, der dann fotografisch belichtet werden konnte, musste man den Aufzugshebel betätigen, bis er an einen Widerstand kam. Dann war die Kamera aufnahmebereit. Theoretisch. Praktisch war der Filmstreifen oft noch zu wenig vorwärts gedreht worden, und es war trotzdem noch ein bereits belichtetes Stück Streifen vor der Linse, die erste Aufnahme würde also nur zum Teil brauchbar sein. Wenn man also auf Nummer sicher gehen wollte, drückte man einmal ab. Irgendwohin.

Bei der Entwicklung des Films gehörte diese teil-belichtete oder gar nicht belichtete erste Aufnahme dann zum Ausschuss. Sie wurde – natürlich – nicht aufs teure Fotopapier gebracht, und wenn man dann nach ein paar Tagen die entwickelten Fotos im Foto-Geschäft abholen konnte, fehlte diese erste 'Aufnahme'. Und die Negative wanderten ins Archiv oder sonstwohin, und dass es überhaupt so etwas wie eine Ausschuss-Aufnahme gegeben hatte, war vergessen.

Ohne diese technische Eigenheit hätte es kein Bild meines Zimmers in Rudolfstetten gegeben, und ohne die Digitalisierung der Filme aus der Jugend vor einiger Zeit wäre ich niemals auf diese Ausschuss-Aufnahme gestossen.

So aber war die Überraschung gross.

Verblasstes, in der Erinnerung Verschüttetes, wird ganz unerwartet fast-scharfes Bild! Auf dem obersten Tablar der Lautsprecher, dessen Kabel sicher zum Kassettenrecorder führt. Daneben eine Reihe von Büchern: das hellblaue dicke ist sicher das 'Duden-Schülerlexikon', das heute noch in meinem Büchergestell steht. Darunter: der Kasten mit den Schmetterlingen, die ich in den Jahren zuvor gefangen und präpariert hatte. Von den Flugzeugmodellen: der Rotor des Helikopters ist sichtbar und ein Teil des Apollo-Raumschiffs. Und auf der unteren Ablage: Schulmaterial. Der dunkelblaue dünne Geografie-Ordner? Darunter ein rot eingebundenes Heft? Und unter diesem wiederum: das Geografie-Buch, ebenfalls eingebunden?

Datieren lässt sich das Bild ziemlich genau: es ist das Ausschussbild zu Beginn eines Films mit Fotos aus den Herbstferien 1971. Und da diese Ferien vom 2. bis am 17. Oktober dauerten, habe ich vermutlich unmittelbar vorher abgedrückt – damit die Kamera dann bereit sei für die Ferien! 

So gibt es nun drei Orte, an denen Spuren meines Jugendzimmers gespeichert sind: die unsicheren Tiefen meiner Erinnerung, den Aufsatz vom 19. November 1971 (Thema: 'Mein Zimmer und was es mir bedeutet') und diese Fotografie, die eigentlich gar keine Fotografie hätte werden sollen.

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Veröffentlicht: 19. November 2021