Die 'Familie'

Der Begriff 'Familie' taucht am 27. Januar (1973) zum ersten Mal in meinem Tagebuch auf. Im Skilager, am 24. Januar, hatten wir sie 'gegründet', diese 'Familie', als wir oberhalb von Sedrun sassen, ein paar Leute, acht, neun, mehr Buben als Mädchen, Weinflaschen öffneten, einander zuprosteten und einander zwei Küsse auf die Wangen gaben: "Jeder war jetzt mit jedem Bruder und Schwester."

Wenn sich eine Gruppe so verbindet, rituelle Handlungen pflegt und auch einen Namen hat für die Gruppe, dann will sie meist zweierlei: im Innern den Zusammenhalt intensivieren und gegen aussen sich abgrenzen.

Schon nur die Möglichkeit, dank der neuen Regeln Mädchen auf die Backen küssen zu können, war ein Gewinn für uns Buben (und umgekehrt für die Mädchen vielleicht auch). Und auch ein Gewinn war, dass sich aus dem Familienleben eine Agenda ergab: es wurden Treffen geplant und abgehalten. Der Schönheitsfehler allerdings: Es war nicht so, dass die Familienmitglieder alle ein Herz und eine Seele gewesen wären – im Gegenteil. Es rumorte. Eifersüchteleien, Intrigen, Meinungsänderungen waren an der Tagesordnung; Momenten des Glücks folgten jähe emotionale Abstürze: ein dauerndes Auf und Ab. In der 'Familie' krachte es andauernd, Aussprache folgte auf Aussprache.

Von aussen muss das zeitweise jämmerlich ausgesehen haben. Und Bedenken, was für eine Falle wir da machen würden, gab es in der 'Familie' durchaus. Aber letztlich nahmen wir das in Kauf. Und wir blieben auf der Achterbahn, durchaus im Wissen darum, dass in wenigen Wochen die grossen Prüfungen anstanden. Offenbar meinten wir, wir hätten noch Reserven.

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Veröffentlicht: 27. Januar 2023