Musik – Die Hitparade!

Kleines Experiment?

Hier sind zehn Sekunden Musik. Zehnmal eine Sekunde. Die jeweils erste Sekunde von zehn verschiedenen Songs.

(Die Auflösung übrigens am Ende des Beitrags)

Was ist beim Hören passiert?

Als die Mutter in Prousts Roman 'A la recherche du temps perdu' ihrem Sohn Marcel Tee und ein Stück Konfekt anbietet, eine 'Madeleine', fliegt Marcel aus der Gegenwart: "In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog." Zunächst weiss er gar nicht, was ihn so freudig stimmt; nimmt noch ein Stück Madeleine und noch einen Schluck Tee, müht sich ab, zum Geschmack die Bilder zu finden, die sich in ihm abgelagert haben. Bis diese Bilder plötzlich da sind und ihn zurückführen in die frühen Tage in Combray, als Tante Léonie dem Buben jeweils eine Madeleine anbot, die sie ihn ihren Tee getunkt hatte.

Töne speichern Erinnerungen, wie eine Madeleine.

Die Zeit in der Bez war wohl für viele die Zeit, in der wir musikalisch geprägt worden sind. Sind wir nicht immer noch imprägniert vom Sound jener Zeit? Selbst jetzt noch, so viel später, auch wenn diese Schicht längst von anderen Sound-Schichten überlagert wurde und matt geworden ist?

Wir hatten nicht so viel Musik in den Ohren, wie es heute der Fall ist; keine Dauerbeschallung. Und auch nicht so viele Möglichkeiten, an Musik heranzukommen. Kein Spotify, kein Apple Music, kein Napster, kein Deezer, kein Amazon Music, kein Google Play Music – nichts von alledem. Nur:

Die Hitparade. Und sonst: in den Plattenladen, Platten hören – und vielleicht sogar kaufen.

Ich frage mich manchmal: Was hat die musikalische 'Sozialisation' längerfristig für Auswirkungen? Für die unterschiedlichen Generationen? Heute ist die Vielfalt an Musik viel grösser. In den Hitlisten ist ein rasches Kommen und Gehen – auch der 'Stars'. Kann es sein, dass längerfristig das musikalische Sediment heutiger Jugendlicher in 50 Jahren weniger einheitlich sein wird, weniger dicht als bei uns? Werden die heutigen Stars dannzumal auch noch herumtingeln, mit über 70, wie es heute Elton John und Tina Turner tun und die Rolling Stones? Und wenn ja: werden die heutigen Jungen, dannzumal alt, auch an deren Konzerte gehen, wie es die heutigen Alten tun? Oder hat man die Hit-Lieferanten von heute dann längst vergessen?

Doch zurück zur Hitparade damals, am Radio.

Die Hitparade gab's noch gar nicht so lange, als wir in der Bez waren: am 2. Januar 1968 war Premiere. Und das Radio-Programm, das jeweils am Freitag für eine ganze Woche im Bremgarter Bezirksanzeiger veröffentlicht wurde, war übersichtlich: Es gab das 'Programm 1' und das 'Programm 2'. Und am Dienstagabend hiess es im Programm 1:

Viele sagten dem Programm 1 damals auch einfach Radio Beromünster. Das Programm selber sagte sich 'Schweizer Radio'. Ein 'Programm 3' – eines, das speziell Musik für Jüngere spielte – wurde erst 1983 eingeführt. Das war, nachdem Radio 24 ab Ende 1979 vom Italienischen Pizzo Gropera aus piratenmässig in den Grossraum Zürich zu schallen begonnen und die ganze Radioszene in Aufruhr versetzt hatte. Innerhalb weniger Tage unterschrieben damals mehr als 200'000 Leute eine Petition an den Bundesrat, er solle Radio 24 gewähren lassen. Das tat dieser dann allerdings nicht, noch eine Weile nicht, aber der Sender blieb trotzdem, es kamen Dutzende neue hinzu, und auf nationaler Ebene dann eben DRS3.

Wer Pop hören wollte, konnte allerdings auch in Deutschland fündig werden: Ab dem 1. Januar 1970 gab's im dritten Programm des Südwestfunks den Pop Shop, jeden Tag über die Mittagsstunden, häufig moderiert von Frank Laufenberg.

Aber bei uns: Nur die Hitparade. Eine halbe Stunde Pop dienstags um 8. In einer Umgebung von easy-listening-Klassik und Volkstümlichem. Pop. Meine Mutter sagte dem Gugeli-Musik, manchmal auch einfach Lärm.

Und es ist ja klar: weil es keine Streaming-Dienste gab und wir auch nicht Geld hatten, um immer die neusten Platten zu kaufen, musste man sie – aufnehmen. Dafür gab es Kassettengeräte, Kassettenrecorder. Doch Mister Pop in der Hitparade und auch seine Kollegen im Deutschen Radio hatten offenbar die Weisung, in die Songs reinzureden, am Anfang oder am Ende: so, dass man nicht das ganze Stück ohne Kommentar aufnehmen konnte. Nervig. Dabei war die Aufnahmequalität gerade in den ersten Jahren eh nicht so gut, weil man meist noch das Mikrofon ans Radio halten musste:

Die Nummer 1 der Jahreshitparade 1970.

Und sonst?

41 Nummer-1-Hits gab es zwischen April 1969 und April 1973: von Sorry Suzanne (The Hollies) bis Mama Loo (The Les Humphries Singers).

Die Hits, die sich in dieser Zeit am längsten als Nummer 1 halten konnten – es waren drei, alle drei 10 Wochen lang an der Spitze: Ende 1969 die Minstrels mit Grüezi wohl, Frau Stirnimaa!; Ende 1971 die Pop Tops mit Mamy Blue; und im Spätsommer 1972 Hot Butter mit Popcorn. Ich hätte eigentlich gedacht, Chirpy Chirpy Cheep Cheep müsste auch irgendwo ganz oben sein. Fast. Im Sommer 71 waren die Middle-of-the-Road-Leute damit 9 Wochen lang an der Spitze – und dann auch die Nummer 1 der Jahreshitparade 1971.

Im Sport sagt man manchmal über die Champions: they never come back. Das war damals auch in der Hitparade so. Nur ein einziger Titel kam zurück an die Spitze, nachdem er von dort verdrängt worden war – dafür gleich zweimal: Mendocino vom Sir Douglas Quintet, im Sommer 69.

Im Sport kennt man zudem die tragischen Figuren, die immer mitmachen, oft zweite sind, aber nie gewinnen. Etwa Raymond Poulidor, der dreimal zweiter an der Tour de France wurde, aber nie gewann – der 'ewige Zweite'. Und auch das gab's in der Hitparade. Zwei stechen heraus: Im Herbst 71 waren eine zeitlang The Sweet mit Co-Co an der Spitze, dahinter Perets Borriquito. Doch das Eselchen rückte nicht nach, als die Sweet nachliessen. Von hinten setzten die Pop Tops zum grossen Sprung an, um auf dem Thron ihr Mamy Blue zu wimmern – und auch lange dort zu bleiben. Borriquito blieb auf Platz zwei, noch fünfmal, ehe es dann abwärts ging.

Ein ähnliches Schicksal traf auch Lieutenant Pigeon Ende 72 / Anfang 73: Fünfmal war Mouldy Old Dough erster Verfolger von Mexico von den Les Humphries Singers. Doch als sich diese nicht mehr an der Spitze halten konnten, rückte nicht der Verfolger nach, nein, es stürmte Monica Morell  auf Platz eins: Ich fange nie mehr was an einem Sonntag an. Das war für Lieutenant Pigeon zu viel: nach diesem sechsten zweiten Platz – ebensoviele wie Borriquito – verabschiedete er sich langsam.

Als Trost dafür: hier die beiden 'ewigen Zweiten'!

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Lust auf mehr?

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Und zum Schluss noch die zehn Sekunden-Songs:

1 – Simon & Garfunkel: El Condor Pasa

2 – Mungo Jerry: In The Summertime

3 – Deep Purple: Black Night

4 – Danyel Gérard: Butterfly

5 – Lynn Anderson: Rose Garden

6 – T.Rex: Hot Love

7 – John Lennon: Imagine

8 – Uriah Heep: Look At Yourself

9 – Cats: One Way Wind

10 – Elton John: Crocodile Rock