17. August 1970, Montag: Brief aus den Ferien

Im Lehrplan 21 steht unter Sprachen > Deutsch > 4 Schreiben > B Schreibprodukte: "Die Schülerinnen und Schüler kennen vielfältige Textmuster und können sie entsprechend ihrem Schreibziel in Bezug auf Struktur, Inhalt, Sprache und Form für die eigene Textproduktion nutzen."

Im damaligen Lehrplan der Bezirksschulen von 1972 heisst es: "Der schriftliche Sprachunterricht gestaltet zunächst leicht fassbaren Stoff vor allem aus dem Erlebnisbereich des Schülers. Stilistische Übungen, Briefe, protokollähnliche Aufzeichnungen, Zeitungs- und Lagerberichte, Inhaltsangaben und kleinere Abhandlungen gehören zum erweiterten Aufsatzunterricht."

Romano Caduff hat, als er sich – vielleicht am letzten Samstagnachmittag vor Schulbeginn, an jenem Samstag, als in Basel ein Mann bemerkte, wie sich zwei Buben an den Brombeeren in seinem Garten zu schaffen machten, und diese Buben mit seinem Flobertgewehr vertrieb, wie es in der NZZ hiess – Romano Caduff also hat sich, als er überlegte, worüber wir im nächsten Aufsatz schreiben könnten, vermutlich nicht vorstellen können, dass die Deutschdidaktik ein paar Jahrzehnte später einen Brief in die Rubrik 'Schreibprodukt' beziehungsweise 'Textmuster' einreihen würde. Vielleicht hat er sich aber gedacht, es würde ihn noch interessieren, ob wir in den Ferien etwas Abenteuerliches erlebt hätten – wie die Buben in Basel. Ein Brief jedenfalls sollte es sein, aus unserem 'Erlebnisbereich'.

Der erste Montag nach fünf Wochen Ferien. Deutsch, zwei Stunden Aufsatz. Caduff sagt uns, wir sollten einem Kameraden, einer Kameradin einen Brief schreiben, aus unseren Sommerferien.

Mein Aufsatz ist adressiert an den 'Schüler Daniel Stoll' in Caorle in Italien, wo er damals offenbar Ferien machte. Pia schreibt der 'Schülerin Irene Knöpfel' nach Hause in Bremgarten. Wir haben uns in den Bänken zweifellos abgesichert, wohin wir schreiben sollten – bevor wir uns dann unseren Abenteuern zuwandten. Wobei: da beginnt dann auch schon der Übergang von der Realität in die Fiktion: Wenn ich in meinem 'Brief', datiert 15. Juli 1970, lese, wie die Familie Kropf in den Ferien in einem gemieteten Fiat 500 ohne Türen und Fenster, dafür mit luftigem Stoffdach, die Insel Rhodos erkundet, dann sind die Bilder dazu sogleich in meinem Kopf. Nur: das war nicht, wie im Aufsatz behauptet, in diesen Sommerferien gewesen, sondern in den Herbstferien des letzten Jahres! In diesen Sommerferien waren wir nämlich zuhause geblieben. Schien mir das einfach nicht spannend genug zu sein, um in einem Aufsatz darüber zu schreiben? Zum Schluss jedenfalls:

Pia wiederum berichtet von einem "erlebnisreichen Tag" : Ein Ausflug nach Seelisberg, mit einem Zug, der Verspätung hatte, einem Schiff, das man deshalb verpasste, einer Seilbahnfahrt hoch auf den Berg und Toiletten am Seeli bei Seelisberg, die "von der Überschwemmung noch völlig im Wasser" standen. Und dann erst noch in die Flipper-Show in Luzern! Genügend erlebt jedenfalls, um am Abend "todmüde" in die Federn zu sinken…