30. September 1971, Donnerstag: die gepfefferte Antwort

Was bisher geschah (Musik-Untermalung):

Das idyllische Städtchen Bremgarten im Freiamt schickt sich an, nach langen Jahren wieder einmal ein Fest für die Jugend auszurichten. Und weil an einem Jugendfest mindestens einmal die Jugend das Wort haben sollte, sucht das Organisationskomitee in der Schülerschaft einen Redner. Röbi weiss zwar noch nicht genau, worüber er reden soll, aber er sagt zu.

Dann kommt das Jugendfest, drei Tage lang wird gefeiert und gefestet. Aber aus nicht mehr rekonstruierbaren Gründen geht Röbis Rede im Jubel und Trubel vergessen, er kann sie gar nicht halten. Weil das Theaterstück der Bez-SchülerInnen 'Vom Hans, der andere Kappen hat gewollt' auf derart grosse Begeisterung gestossen ist, soll es in der folgenden Woche nochmals aufgeführt werden – und Röbi seine Rede nachholen.

Der Tag kommt, das Theaterstück wird aufgeführt, Röbi hält seine Rede.

Nochmals eine Woche später: Donnerschlag. Der Bremgarter Bezirksanzeiger eröffnet seine Frontseite mit dem Titel 'Eine Rede, die nie gehalten wurde'. Die Redaktion setzt einen Kommentar, bevor sie die Rede im Wortlaut wiedergibt. Und sie spart nicht mit Kritik: Der junge Redner habe "im Religionsunterricht nichts, im Geschichtsunterricht nichts gelernt", und "Anstelle einer christlichen Weltanschauung und einer staatsbürgerlichen Erziehung steht ein Vakuum." Starker Tobak. Alle regen sich auf: die Redaktion über die Rede, wir über die Redaktion und ihren Kommentar, und auch andere melden sich zu Wort. (Ende der Musikuntermalung)

In der Dienstagsausgabe des Bezirksanzeigers vom 27. September sind zwei Leserbriefe zum Artikel. Einer ist mit -er unterzeichnet und geht kurz und bündig:

Bremgarter Bezirksanzeiger, 27.9.1971

Das ist in der Aussage vielleicht mehr verhüllend als andeutend, aber -er hat zweifellos gewusst, was er / sie sagen wollte – falls die Stellungnahme tatsächlich dem Artikel 'Eine Rede, die nie gehalten wurde' galt.

Expliziter wird Nina Schaufelbühl: "Die Schülerrede vom Jugendfest zeigt mehr Toleranz, als die Kritik an derselben.", beginnt sie. Es sei "unfair, einen jungen Menschen, der frei seine Meinung äussert, öffentlich schlecht zu kritisieren. Die Jugend wird kaum dadurch den Eindruck gewinnen, dass wir Erwachsenen ihr Verständnis entgegenbringen."

Bremgarter Bezirksanzeiger, 28.9.1971

Dann vergehen noch einmal zwei Tage. Tage, in denen sich unsere Lehrer sicher viel überlegt haben; sich überlegt haben, wie scharf sie auf den Artikel im Bezirksanzeiger reagieren sollten. Und dann haben sie mit Verve und sicher auch einer gewissen Lust in die Tasten gegriffen.

Bremgarter Bezirksanzeiger, 30.9.1971

"Zum Thema: Eine Rede, die nie gehalten wurde

Anmerkung der Redaktion

Der Bremgarter Bezirks-Anzeiger gehört seit 111 Jahren der Weltanschauungspresse an. Er ist vaterländischer Gesinnung und christlicher Weltanschauung verpflichtet.

Es kann der Redaktion daher nicht gleichgültig sein, wenn in einer Rede einseitig nur Argumente der Dienstverweigerer vorgetragen werden und über die christliche Religion kein gutes Wort zu finden ist, sondern an ihr mit dem Argument gezweifelt wird, "dass im Namen Christi bis jetzt das meiste Unrecht auf Erden geschehen sei".

Diese Bemerkungen möchten wir der gegen Schluss polemisch werdenden Replik der Lehrerschaft der Bezirksschule Bremgarten voranstellen, die uns in deren Auftrag Rektor Knecht zusandte:

Misstöne im Ausklang des Bremgarter Jugendfestes oder: Eine Rede, die doch gehalten wurde

Die Tatsachen:

Die im Bremgarter Bezirks-Anzeiger abgedruckte Jugendfestrede unseres Bezirksschülers Röbi Müller wurde gehalten; allerdings eine Woche später, im Zusammenhang mit der zweiten Aufführung unseres Theaters 'Vom Hans, der andere Kappen hat gewollt'. Leider ist das dem 'übereifrigen' Redaktor Dr. Weissenbach entgangen.

Die Stellungnahme der Bezirkslehrerschaft:

Schwerer als die Verdrehung der erwähnten Tatsache wiegt der Vorwurf, den Dr. Weissenbach dem Schüler Röbi Müller und durch ihn auch unserer Schule zuschiebt. Hinter der Frage 'Woher bezieht dieser Schüler seine Weisheit?' grinst für Dr. Weissenbach die Fratze linksextremer Progressisten. Mit Entrüstung hebt er den Finger: Röbi hat es verraten! Anstelle einer christlichen Weltanschauung steht ein Nichts, staatsbürgerliche Gesinnung wird an der Bezirksschule Bremgarten nicht gelehrt!

Wir halten eindeutig fest: Die Bezirksschule Bremgarten fühlt sich dem christlichen Weltbild und dem demokratischen Freiheitsgedanken verpflichtet. Das heisst aber nicht, dass wir in einer festgefügten Weltanschauung behaftet sind und Wirkliches nach Art früherer Jahrhunderte nur im Lichte eines vorgegebenen theologischen oder philosophischen Weltbildes deuten. Wir zwingen unseren Schülern keine vorgefassten Meinungen auf, wir pressen sie nicht in ein vorgeformtes Weltbild ein. Wir versuchen, unsere Schüler zu denkenden, verantwortungsbewussten Menschen zu erziehen. Wir erzählen ihnen in Geschichte und Religion, um die von Dr. Weissenbach kritisierten Fächer zu erwähnen, keine Halbwahrheiten. Wir sagen ihnen, dass es schlechte Päpste gab, zeigen ihnen umgekehrt aber auch das Menschenbild eines Bruder Klaus. Wirklichkeit erfassen heisst, wirklich Scheinendes immer wieder in Frage stellen. Und was anderes hat Röbi Müller getan? Waren seine Fragen so verwerflich?

Röbi Müller fand auf seine Fragen keine Antworten – mit einer Ausnahme. Mit dem erwähnten Artikel hat ihm Dr. Weissenbach die Frage gelöst, warum denn die heutige Jugend in ihrer Art des Denkens und Fühlens von so vielen erwachsenen Menschen nicht mehr verstanden wird: Weil es Menschen gibt, die in der Manier des Herrn Weissenbach in weltanschaulichen Ketten einherziehen und Andersdenkende besudeln, ganz einfach weil sie sind. Herr Dr. Weissenbach mag sich folgendes ins Notizbüchlein schreiben: Hinter dem lieblosen Kritisieren verbirgt sich oft eine üble Gesinnung, die Anmassung, als Richter aufzutreten, manchmal aber auch eine Art Krämergeist und Angst, den angestammten, scheinbar festgefügten Standort zu verlassen, was nötig wäre, um gewisse Probleme sachgerechter in Griff zu bekommen.

Wir bedauern, dass unsere Schüler schon so früh üblen Tendenzen heutiger Journalistik begegnet sind, umsomehr Herr Weissenbach als konservativer Redaktor sich seiner Verantwortung, auch der Jugend gegenüber, bewusst sein sollte. Anderseits aber wird gerade diese Erfahrung einigen allzu reformfreudigen Schülern eine heilsame Lektion sein und sie lehren, Gedrucktes mit der nötigen Vorsicht anzufassen. Dafür danken wir dem Redaktor des Bremgarter Bezirks-Anzeiger.

Die Lehrerschaft der Bezirksschule Bremgarten"

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Da kann ich nur sagen: Hut ab!