Kritzeleien

Was hat sich Herr Caduff, unser Französischlehrer, wohl gewünscht, wenn er uns an unseren Pulten sitzen sah und uns sagte, wir sollten unsere Bücher aufschlagen, Seite 233, wir würden jetzt nochmals die Futur-Formen anschauen? Ich weiss es natürlich nicht, aber wenn ich es mir vorzustellen versuche, war sein Wunsch wohl ein ganz einfacher: dass wir mit ihm in die Futur-Formen eintauchen würden, auf dass wir etwas lernten.

Einen Teil dieses Wunsches haben wir vermutlich alle erfüllt: wir schlugen das Buch auf und schauten hinein, in dieses Buch. Was wir allerdings dort sahen, und in welcher Art das Gesehene uns animierte – das entzog sich weitgehend der Kontrolle des Lehrers. Was ging uns durch den Kopf, wenn wir diese Futur-Formen sahen – j'irai, je viendrai, je saurai? Und was löste all dies aus: das offene Buch vor uns, wir an unseren Zweierpulten, vorne der Lehrer, der etwas sagte, etwas fragte?

Wenn ich heute das alte Französisch-Buch anschaue, durch die Seiten blättere, so springt mir ins Auge: nicht nur der Kopf war mit dem Buch beschäftigt; es waren auch die Hände.

Hervorheben, was wichtig ist

Max Staenz: Premières années de français, Seite 233
Max Staenz: Premières années de français, Seite 301
Max Staenz: Premières années de français, Seite 158

Ein Ausrufezeichen, ein Rahmen um ein bestimmtes Objekt, eine Kennzeichnung als 'wichtig': solche und andere grafischen Auszeichnungen sollten mir sicher helfen, mir etwas einzuprägen. Und die entsprechend markierten Stellen sollten sofort ins Auge stechen beim Wiederholen der Materie. Insofern kann man wohl sagen: diese Art der darstellerischen Anreicherung des Buches kam den Wünschen von Lehrer Caduff durchaus entgegen: sie sollte helfen, Französisch zu lernen.

Zeichnungen als Vorlagen

Heute kommen Lehrmittel, mit denen man Sprachen lernen soll, meist als bunte Bilderbücher daher. Das ist nicht nur bei Büchern für die Kleinen so, es ist auch so bei den Büchern für ältere SchülerInnen und auch für Erwachsene – siehe nur schon den kurzen Vergleich der Lehrmittel damals und heute im Fach Latein.

Dass Bilder das Lernen von Sprachen unterstützen, muss eine Erkenntnis der Sprachdidaktik sein. In früheren, noch nicht so avancierten Zeiten, dachte man wohl, Schwarz-Weiss-Zeichnungen würden es auch tun. Oder – ja, der Gedanke muss kommen – man war nicht willens, Farbe in die Lehrmittel zu investieren. Wie auch immer: die schwarz-weissen Zeichnungen im Staenz schienen mir geradezu nach Farbe zu schreien!

Max Staenz: Premières années de français, Seite 240
Max Staenz: Premières années de français, Seite 303

Die Farbe folgt hier den Formen. Manchmal führt der Einsatz der Farbe aber auch über die Formen hinaus – und direkt in die zeitgeistigen Debatten von damals. Hier etwa mischt das Peace-Zeichen die Unterhaltung zwischen Lafontaines Corbeau und dem Renard auf, ganz minimalistisch:

Max Staenz: Premières années de français, Seite 367

Und man fragt sich: was soll es bedeuten? Die gleiche Frage auch hier:

Max Staenz: Premières années de français, Seite 281

"Vous voyez le printemps! Moi pas." steht auf der Tafel des blinden Bettlers. Doch angekettet sind die beiden feinen Herren?

Manchmal füllen sich die Vorlagen auch mit unserem Alltag: Der Skifahrer auf Seite 88 bekommt einen Namen…

Max Staenz: Premières années de français, Seite 88

…der Chef der BDB, Herr Fink, lange Haare und einen neuen Arbeitsplatz:

Max Staenz: Premières années de français, Seite 138

Und manchmal sind die Vorlagen mit zusätzlichem Sinn und Unsinn aufgeladen: Der Bub im Bach sagt zum Vater: "De Stei hätt e Büüle", worauf der Vater mit den kaputten Hosen erwidert: "Tu en mit Wisky desinfiziere, Seppli". Da sind wir dann schon recht weit weg von dem, was Caduff sich wünschte.

Max Staenz: Premières années de français, Seite 160

Sich an die Vorlagen im Buch halten – völlig ok. Aber die weissen Flächen im Buch laden auch ein zu freierer Betätigung:

Allerlei Linien

Was passiert, wenn man die geschlossenen Flächen von Buchstaben mit Tinte füllt und dann mit dem Finger darüber wischt? Es passiert das:

Max Staenz: Premières années de français, Seite 232

Dann Linien, wenig figurativ:

Max Staenz: Premières années de français, Seite 309
Max Staenz: Premières années de français, hinterer Buchdeckel

Kleinere und grössere Zeichnungen

Manchmal rund um ein Wort, manchmal am Seitenrand, manchmal mitten drin.

Max Staenz: Premières années de français, Seite 112
Max Staenz: Premières années de français, Seite 165
Max Staenz: Premières années de français, Seite 304

Und schliesslich die 'Werke', die das Französische und Staenz und all die Bemühungen von Lehrer Caduff ganz in den Hintergrund drängen:

Max Staenz: Premières années de français, Seite 143

Immer wieder kommt es dabei auch zu Gastbeiträgen. Das folgende Beispiel trägt – unschwer zu erkennen – Röbis Handschrift. Die herausgerissene Seite 239, die sich auf wundersame und glückliche Weise erhalten hat, kann ich mir auch in einem Museum für naive Kunst vorstellen. Allein die Art, wie der Künstler mit dem Problem umgegangen ist, dass die linke Hand auf der Buchseite keinen Platz mehr haben würde, ist schlicht und genial:

Max Staenz: Premières années de français, Seite 239

Wer hier porträtiert wurde, ist nicht auszumachen, man kann höchstens spekulieren. Anders im folgenden Fall, wo Lehrer Caduff Modell gestanden hat. Da mischen sich nun Französisch-Stunde, Französisch-Lehrer, Französisch-Buch und Französisch-'Lernen' zu einem ganzheitlichen Erlebnis an einem Tag während unserer letzten Monate oder Wochen an der Bezirksschule in Bremgarten.

Max Staenz: Premières années de français, Seite 331

Die Sprüche: das Buch als Archiv

Auf Seite 220 findet sich folgender Eintrag:

Max Staenz: Premières années de français, Seite 220

"Kasch de zum Zirkus gooo!" Der Spruch von Lehrer Peter Bundi erinnert an eine bestimmte Gegebenheit, die sich am 20. März 1972, einem Montag am Ende der dritten Klasse in Bremgarten zugetragen haben muss. Aber an wen war der Spruch gerichtet? Was war der Auslöser gewesen, der Bundi zu dieser bemerkenswerten berufsberaterischen Aussage brachte? Ich weiss es nicht. Der Spruch schien mir aber zu wichtig, als dass er im allgemeinen Rauschen jenes Frühlingstages untergehen sollte, und deshalb fand er auch Aufnahme im Archiv, als das sich der Staenz jetzt herausstellt. Und ich kann mich erinnern, dass wir den Spruch auch untereinander brauchten und uns dabei Mühe gaben, Bundis bündnerischem Akzent möglichst nahe zu kommen.

So hat dieser Staenz mit den Jahren eine persönliche Note bekommen. Er ist von einem Französischbuch zu meinem Französischbuch geworden.

PS: Das Französisch-Buch haben wir nach Gebrauch nicht zurückgeben müssen, wie es bei den meisten Büchern üblich war. Oder vielleicht war es auch so, dass ich es hätte zurückgeben müssen, aber nicht konnte, weil es zu viele Gebrauchsspuren trug?

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Veröffentlicht: 10. Februar 2023