Mikro-Archäologie bei den Magdeburger Halbkugeln

Manchmal bleibt man an einem Detail hängen. Das Auge – das Ohr, die Nase – scannt das Leben, sozusagen, filtert, sortiert aus, was nicht gebraucht wird, und konzentriert sich auf die wichtigen Dinge. Was wichtig ist, dem schenken wir Aufmerksamkeit. Der Rest wird vom Radar unterdrückt und löst sich auf im Rauschen der Welt. Zum Glück ist das so. Sonst gingen wir ob der schieren Menge der Eindrücke zugrunde.

Das Rauschen ist nichts. Da ist nichts zu sehen, nichts zu hören, nichts zu riechen. Und doch: das Rauschen ist alles. Alles bis auf das Wenige, das unsere Aufmerksamkeit erhält. In der Zeitschrift 'Die Volkswirtschaft (Nummer 12 / 2020) fragte die Interviewerin den Neuropsychologen Lutz Jäncke, wie unser Gehirn funktioniere. Und Jäncke antwortete: "Wir müssen uns in der Vielfalt und Komplexität der Welt auf das Wesentliche konzentrieren. Pro Sekunde prasseln 11 Millionen Bit (Anm. d. Red: Das entspricht 11 Megabyte) an Informationen auf unser Hirn ein. Davon nehmen wir nur gerade rund einen Millionstel wahr! Zusätzlich ist das Gehirn auch ein Interpretationsorgan. Aus den Informationen, die es aufnimmt, muss es die Vergangenheit, die Zukunft, aber vor allem auch die Gegenwart interpretieren."

Manchmal sticht etwas vollkommen Irrelevantes aus dem Rauschen hervor; etwas, das unser Gehirn unter normalen Umständen sofort wieder ausblendet, um sich den wichtigen Dingen widmen zu können.

Ich weiss nicht mehr, wie es kam. Wie es kam, dass ich beim Durchblättern des Physikheftes bei etwas vollkommen Irrelevantem hängenblieb.

'Magdeburger Halbkugeln', Luftdruck bestimmen, Formeln. Darum geht es hier. Aber oben links hat es so einen rötlichen Schlenker. Gehirn an Auge: können wir da mal etwas näher heran?

Irgendein undefinierbares Schmutzteilchen. Aber die Farbe ist irgendwie irritierend. Noch etwas näher, bitte.

In der Schülerzeitung Nummer 4, die im Dezember 1970 erschien, hatte Lehrer Saxer über Mikroskope geschrieben und darüber, wie sie uns die Welt erschliessen könnten. Mein Mikroskop ist jetzt der Scanner, mit mässiger Auflösung. Trotzdem:

Fadenartig, in unterschiedlicher Breite, ungekrümmt wohl nicht ganz einen Centimeter lang, von rötlich-oranger Farbe, auf eine Seite des Heftes gepresst. Das 'Ding' liesse sich von Hand wegwischen, es ist wohl kaum giftig oder Allergie-auslösend, auch wenn es, so vergrössert, wie der Teil eines Krebses aussieht. Aber wenn ich es wegwischen würde, dann wäre es weg. Und jetzt wüsste ich doch gern, was es ist.

Soll es dort bleiben, wo es ist, kann seine Konsistenz nicht untersucht werden. Kann ein interpretativer Ansatz helfen? Klar, natürlich – oder besser: ich nehme es jedenfalls an. Schauen wir uns die Umgebung dieses krebsfarbigen Fadens an, so trifft man, nur gut vier Centimeter entfernt, Richtung vier Uhr, auf die Magdeburger Halbkugeln. Gezeichnet mit Fülli und Bleistift. Blaue Tinte und etwas Graphit.

Radiergummi!

In meinem alten Etui ist noch einer.

Die Farbe passt – und dann heisst er erst noch 'Corall'! Es war vermutlich nicht dieser Radiergummi, der bei der zeichnerischen Rekonstruktion der Magdeburger Halbkugeln half, aber wohl einer seiner Vorgänger.

Wenn man mit dem Radiergummi Bleistiftspuren entfernen will, dann bilden sich, je nachdem, wie man den Gummi führt, kleine Flöcklein, oder die Flöcklein werden zu Fäden gerollt. Genau so wie im Heft.

Wenn all diese Spekulationen zutreffen, dann hiesse das: auf Seite 15 des zweiten Physikhefts in der dritten Bez finden sich nicht nur die Resultate der Beschäftigung mit den Magdeburger Halbkugeln, sondern auch Spuren des Arbeitsprozesses. Es ist mir damals, in jenen kalten Monaten Ende 71 oder Anfang 72, ganz offensichtlich nicht gelungen, die Zeichnung ohne korrigierendes Radieren anzufertigen. Und als es trotzdem geschafft war, war ich zu faul oder zu erschöpft, den corall-roten Radiergummi-Faden wegzuwischen oder wegzublasen, so dass er die ganzen 50 Jahre zusammengequetscht im Heft verbringen musste.

Soviel zur Frage, was passiert, wenn etwas, das ganz und gar nicht dazu bestimmt ist, auch nur die geringste Relevanz zu erhalten, aus irgendwelchen Gründen trotzdem kurz aus dem Rauschen der Welt heraussticht.

Das Modell 'Corall' führt die Firma Läufer-Gutenberg übrigens heute nicht mehr im Sortiment, wohl aber einen Radierer, der sehr ähnlich zu sein scheint und jetzt 'Supra' heisst. Nicht aus billigem Kunststoff, sondern echtem Naturkautschuk!

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7. Dezember 2021