5. Juli 1969, Samstag: Beginn der Sommerferien

Natürlich, wir hatten am Samstag noch Schule. Zeit, uns voneinander zu verabschieden. Fünf Wochen Ferien. Nächster Schultag: Montag, 11. August – so stehts in der Schulchronik (frage mich gerade, wie es sein wird, wenn im nächsten Jahr nichts mehr in der Schulchronik stehen wird, weil der neue Rektor, aus welchen Gründen auch immer, die Chronik nicht geführt hat).

Fünf Wochen, eine lange Zeit. In dieser Zeit wird in der kenianischen Hauptstadt Nairobi der Minister für wirtschaftliche Planung und Entwicklung erschossen, verbessert die 20-jährige Schweizer Leichtathletin Meta Antenen in Liestal den Weltrekord im Fünfkampf, kommen in Westeuropa bei heftigen Stürmen mindestens 36 Menschen ums Leben, schiessen sich israelische und syrische Kampfjets über den Golan-Höhen gegenseitig vom Himmel, ertrinken vor Sylt vier Kinder einer Kinderheimgruppe, als sie im flachen Wasser von einer Welle erfasst werden, anerkennt Ägypten als erstes nicht-kommunistisches Land die DDR als zweiten deutschen Staat, kommt es in Londonderry in Nordirland zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten, bricht nach einem Fussballspiel zwischen El Salvador und Honduras zwischen den beiden Ländern ein kurzer Krieg aus, werden Roman Polanskis Verlobte Sharon Tate und weitere vier Personen in einer Villa in Los Angeles auf grausame Art ermordet, gibt der norwegische Forscher Thor Heyerdahl mitten im Atlantik sein Vorhaben auf, mit einem Papyrusboot von Afrika nach Amerika zu segeln, gewinnt Eddy Merckx mit einem Vorsprung von über 17 Minuten zum ersten Mal die Tour de France, wird Prinz Juan Carlos von Spanien als künftiger König und Nachfolger von Diktator Franco vereidigt, verursacht US-Senator Edward Kennedy bei Chappaquiddick einen Autounfall, bei dem seine Sekretärin, Mary Jo Kopechne, ums Leben kommt, gewinnen die USA den Leichtathletik-Länderkampf gegen die Sowjetunion, kollidieren über Baden-Württemberg zwei kanadische Starfighter, kommt es in Berlin zu Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und der Studentenbewegung APO, reist Paul VI. als erster Papst nach Afrika, war im Juli das Wetter in Zürich mit 15,4 Grad um mehr als 1 Grad kühler als im langjährigen Durchschnitt, reist US-Präsident Nixon nach Rumänien und damit als erster amerikanischer Präsident nach dem Zweiten Weltkrieg in ein kommunistisches Land, strahlt die ARD zum vorläufig letzten Mal die Sendung 'Einer wird gewinnen' mit Moderator Hans-Joachim Kulenkampff aus, schlagen die drei Westmächte USA, Frankreich und Grossbritannien der Sowjetunion neue Gespräche zur Lösung der 'Berlin-Frage' vor, wertet Frankreich unter Präsident Pompidou den Franc um mehr als 10 Prozent ab.

All dies – fast alles – haben wir nie gewusst oder längst wieder vergessen. Doch etwas ist mir geblieben: die unscharfen Bilder am Fernsehen, die weisse Gestalt, die sich langsam eine Leiter hinuntertastet und dann in krosendem, rauschendem Englisch sagt, sie sei jetzt auf dem Mond.