Geschichte in der vierten Bez

In der dritten Bez waren wir bis 1848 vorgedrungen, bis zur neuen Schweizer Bundesverfassung. Von da waren es noch 124 Jahre bis zur Gegenwart.

Theoretisch hätten wir schon etwas weiter sein müssen. Der Lehrplan von 1972 sieht die 4. Bez nämlich mit dem ersten Weltkrieg beginnen:

Lehrplan für Bezirksschulen, 1972, Seiten 24 und 25

"Im reifer gewordenen Schüler, dem künftigen Staatsbürger, ist das Interesse für das Zeitgeschehen in der Heimat und der weiten Welt zielbewusst zu wecken." heisst es bei den Zielen für die 4. Klasse. Der Sinn für "geschichtliche, wirtschaftliche und politische Zusammenhänge" sei zu stärken, ebenso das Verständnis, wie die Gegenwart aus der Geschichte entstanden ist.

Was gegenüber der dritten Klasse auffällt: wir schreiben nicht mehr viel in unsere Hefte, bekommen aber umso mehr Matrizen mit Zusammenfassungen, Quellen, dazwischen auch Fragen.

Hier die Stationen:

Der Imperialismus

Die europäischen Mächte wenden sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Afrika und Asien zu, "um dort Kolonialreche und Herrschaftsgebiete zu errichten." Sie sind auf der Suche nach Rohstoffen, Absatzmärkten und nationalem Prestige. Die Konkurrenz unter den europäischen Mächten heizt den Nationalismus an.

Wechselnde Bündnisse

Otto von Bismarck war über Jahrzehnte der starke Mann im deutschsprachigen Gebiet: Zuerst als preussischer Ministerpräsident, dann, nach der Gründung des deutschen Reiches 1871, als Reichskanzler. Sein primäres Ziel in den Anfängen des Reichs: die Absicherung Deutschlands, vor allem gegenüber Frankreich.

Nach der Entlassung Bismarcks ändert sich die Konstellation in Europa allmählich: "Deutschland geriet in die Isolation durch die zögernde Haltung des Kaisers und durch eine verhängnisvolle Überschätzung der eigenen Möglichkeiten."

Krisen auf dem Balkan, Krisen im Osmanischen Reich, Krisen andernorts – bis der Erste Weltkrieg ausbricht: "Durch den unheilvollen Mechanismus der Koalitionen weitgehend ihrer Handlungsfreiheit beraubt, sahen sich sämtliche Grossmächte in die militärische Auseinandersetzung verwickelt. Europa stand in Flammen, die Lichter gingen aus."

Wir haben sicher mehr als eine Geschichtsprüfung geschrieben in der vierten Bez, aber von einer habe ich im Heft die Fragen notiert.

"Fragen der Geschichtsprüfung (Blätter 5, 6, 7, 8) Erster Weltkrieg – 1.7.72

    1. Nach dem 1. Weltkrieg warf Deutschland den Siegermächten vor, diese hätten es bewusst eingekreist. Was sagst du dazu.
    2. Warum geriet Deutschland in die Isolation?
    3. In welchem Zusammenhang spricht man von einer Blankounterschrift Wilhelms II?
    4. Ein berühmter Historiker sagte einmal: Nach dem Mord von Sarajewo stolperten die grössten europäischen Mächte in den Krieg hinein. Was meinte er damit?
    5. In welcher Absicht wurde das österreichische Ultimatum an Serbien gestellt?
    6. Welche Forderung dieses Ultimatums konnte Serbien nicht annehmen? Warum?"

Es steht dann noch dort: "Lösungen auf der Rückseite". Aber auf der Rückseite zumindest dieses Blattes sind keine Lösungen.

Der Erste Weltkrieg

Die Kriegspläne sind schnell einmal Makulatur, es kommt anders, als sich die Generäle das vorgestellt haben. "Vom November 1914 bis zum März 1918 verschob sich die Frontlinie im Westen nie mehr als 10 km." Und "Verdun wurde zur blutigsten Schlacht der Weltgeschichte."

Wir sprechen über 'das Gesicht des Krieges': "Seit es Menschen auf Erden gab, wurde noch nie ein Krieg so total, so umfassend, so fürchterlich geführt."

Wir sprechen über den 'Sinn des Krieges': "Der Krieg hatte keinen Sinn. Zu dem, was Sinn hat, braucht es keinen Krieg. Kriege lösen keine Probleme, aber sie schaffen neue. Ist aber Krieg einmal da, so legen die Leute einen Sinn in ihn hinein: Sie können nicht glauben, dass all die Opfer sinnlos seien. Auch die Führung sucht einen Sinn, will mit ihm das Volk begeistern. Das war denn der Sinn dieses Krieges: sich mit England messen."

Wir sprechen über den Eintritt der USA in den Krieg, das Ende des Krieges, den Waffenstillstand im Wald von Compiègne am 8. November 1918 und die 'Dolchstoss-Legende'.

Die russische Revolution

Die späte Aufhebung der Leibeigenschaft der Landbewohner, eine überstürzte Industrialisierung, ein Zar, der "willensschwach und von trägem Geiste" war und noch manches mehr: Die Ursachen für die erste Revolution in Russland 1905 waren vielfältig.

Karl Marx und Friedrich Engels wollen gemeinsam "eine bessere und gerechtere Welt schaffen." Wir schauen uns die Grundsätze des 'Kommunistischen Manifests' an.

Die unterschiedlichen Ansichten über den Weg zur Revolution spaltet die Revolutionäre in 'Bolschewiki' und 'Menschewiki'. Wladimir Uljanow alias Lenin flüchtet in die Schweiz und lebt während des Weltkriegs zuerst in Bern, dann in Zürich, bis ihn die Deutschen in einem plombierten Eisenwagen durch Europa reisen lassen, in der Hoffnung, "Lenin werde Russland in die Revolution stürzen und dadurch die deutsche Ostfront entlasten."

Ein erster Umsturz im Februar 1917, dann die 'Oktoberrevolution' mit Lenin und Trotzki an der Spitze. Der neue 'Rat der Volkskommissare' beschliesst die Enteignung des grundherrschaftlichen Bodens und zieht sich aus dem Krieg zurück: im Frieden von Brest-Litowsk muss Russland grosse Gebiete abtreten, Gebiete, die heute polnisch, finnisch, ukrainisch, estnisch, lettisch sind. Es folgen Jahre des Bürgerkriegs in Russland.

Die Sowjetunion

Wie sind die Strukturen des neuen Landes? Bei welchen Gremien liegt die tatsächliche Macht? Was unterscheidet diese staatlichen Strukturen von jenen, die wir im Westen Europas kennen? Die "Identität von Staats- und Parteigewalt wurde für alle totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts Vorbild, ebenso die Trennung in ein äusseres, geschriebenes Verfassungsrecht, das weitgehend Fassade blieb, und in ein inneres, der Parteiverfassung entsprechendes Staatsrecht."

Nach dem Tod Lenins wird Stalin der starke Mann in der Sowjetunion. Die Geheimpolizei stützt ihn im Innern, die 'Rote Armee' gegen aussen. Und wie heissen die Führungsfiguren heute?

Die Ergebnisse des Ersten Weltkriegs

"Der 1. Weltkrieg hatte nicht nur mehr Opfer gefordert als jeder bisherige Krieg. Grenzen und Herrschaftsformen vom Rhein bis Russland, von der Ostsee bis zum Mittelmeer und zum Persischen Golf waren in Bewegung geraten. Neue Staaten entstanden, Königs- und Kaiserkronen purzelten: die Krone des Zaren, die Kronen des deutschen und österreichischen Kaisers und selbstverständlich die Kronen der 23 deutschen Landesfürsten. Nikolaus II. wurde ermordet, Wilhelm II. floh nach Holland, und Kaiser Karl, der letzte Habsburger, flüchtete in die Schweiz."

Deutschland wird der Friedensvertrag von Versailles aufgenötigt, der dem Land die alleinige Schuld für den Krieg gibt. "Heute wird von den meisten Historikern die Behauptung von der Alleinschuld Deutschland in der wissenschaftlichen Forschung aufgegeben."

Europa ist verarmt, die USA steigen zur neuen dominierenden Macht im Westen auf.  

Der Völkerbund

"Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, dessen Vierzehn-Punkte-Programm den Friedensschluss eingeleitet hatte, ging es nicht nur darum, dass für diesmal Frieden geschlossen werde; der Friede sollte nachher auch erhalten, der Ausbruch neuer Kriege verhütet werden. Zu diesem Zweck schlug er einen Zusammenschluss der Völker vor."

"Auf Wilsons Wunsch erhielt der Völkerbund seinen Sitz in Genf, der Stadt des Internationalen Roten Kreuzes in der neutralen Schweiz, die selber einen Völkerbund im kleinen darstellt."

Die Nachkriegszeit

In Deutschland ist die Monarchie an ihr Ende gekommen, es folgt die Zeit der 'Weimarer-Verfassung'. Um den Krieg zu finanzieren und später Schulden zu bezahlen, hatte Deutschland viel Geld drucken lassen. Was folgte, war die grosse Inflation. 1918 kostete ein Ei 0,12 Mark, im November 1923 waren es 50'000'000'000 Mark: 50 Milliarden. "Ungezählte Leute verarmten, vor allem aus dem Mittelstand; viele alte Leute nahmen sich verzweifelt das Leben." Andererseits war die Inflation "ein vorzügliches Mittel, Inlandschulden abzuschütteln. Jeder Inhaber von Grund und Boden, jeder Haus- und Fabrikbesitzer war nach dieser Zeit schuldenfrei: er hatte mit entwertetem Geld seine Schulden bezahlt. Ebenso erstattete der Staat dem Volke seine Kriegsanleihen zurück." Im gleichen Jahr 1923 versucht ein junger Mann im sogenannten Münchner 'Bürgerbräu-Putsch' die Regierung zu stürzen: Adolf Hitler.

Das 'Dritte Reich'

"Gleichzeitig mit Stalin stieg in Deutschland ein Mann zum Diktator empor, der die Welt in eine namenlose Katastrophe stürzte."

Wie beschäftigen uns mit Adolf Hitlers Herkunft, dem Aufstieg der 'Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei', dem Börsensturz in den USA und der anschliessenden Weltwirtschaftskrise. Noch im Sommer 1929 ging es der US-Wirtschaft fabelhaft. Und "Man glaubte, es gehe alles so weiter. Man nimmt Geld auf und investiert. Immer mehr. Man investiert mehr Geld, als Wertware da ist." Im Oktober dann: "Der Welthandel klappt zusammen."

Währenddessen wächst der Einfluss der NSDAP:

Hitlers Ziel, nachdem er 1933 an die Macht gekommen ist: die "totalitäre Herrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland". "Totalitäre Herrschaft ist eine völlig neue, erst im 20. Jh. konsequent ausgebildete und erst auf Grund des hohen Standes von Wissenschaft und Technik mögliche Herrschaftsform. Totalitäre Herrschaft liegt vor, wen eine Regierung oder eine gesellschaftliche Machtgruppe sich durch ihre scheinbar alles erklärende Weltanschauung ermächtigt fühlt, uneingeschränkt das gesamte Leben im Staat nach einem einheitlichen Programm regeln zu dürfen und in der Lage ist, diesen Anspruch auch zu realisieren." Im Dritten Reich war das der 'Führerstaat'.

Rassenlehre und Antisemitismus sind Thema gegen Ende der vierten Klasse.

Das 'Ermächtigungsgesetz', die Ermordung Röhms , die anschliessende Ersetzung der SA durch die SS unter Heinrich Himmler, die allmähliche Zerschlagung der Versailler Verträge, der Anschluss Österreichs im März 38 und die Zerschlagung der Tschechoslowakei sind die letzten Einträge in meinen Geschichtsunterlagen bei Lehrer Grossholz. Dann begann der Zweite Weltkrieg. Wir sind nicht mehr dazu gekommen.

 

PS: Ein Spruch von Lehrer Ernst Grossholz, der mir geblieben ist und den ich im Tagebuch wieder gefunden habe: im November 72, als wir uns über Kapitalismus und Kommunismus unterhielten: "Die Welt ist im Osten nicht weiss, im Westen nicht weiss. Sie ist im Osten nicht schwarz, im Westen nicht schwarz. Sie ist dort grau und auch hier grau."

*

Veröffentlicht: 29. August 2022