21. Oktober 1971, Donnerstag: Das amerikanische Diktat

Was ist eigentlich, wenn jemand in der Schule fehlt? Man verpasst die Stunden. Und es fehlt einem dann etwas im Heft.

Die Stunde kann man logischerweise nicht nachholen (heute ginge das: die Lehrerin nimmt einfach ihren Unterricht auf und schickt dann eine Video-Datei – easy!). Aber das Heft kann man nachführen.

Unter den überraschenden Funden auf den alten Kassetten war eine längere Aufnahme, gut 14 Minuten. Sie beginnt so:

Da spricht jemand jemanden an: Seppli. Auch wenn mir die Stimme fremd vorkommt: der, der spricht, war ich. So muss ich getönt haben vor 50 Jahren, als ich 14 war. Und Seppli? Vermutlich Röbi. Einer seiner Übernamen (das wäre auch einmal ein Thema). Er hatte mir ja selber einmal telefoniert, als ich im Geschichtsunterricht gefehlt hatte.

14 Minuten diktierter Text, das ist lang. Und wenn ich im Geografie-Heft der 3b nachschaue, so sind das nicht weniger als 13 Seiten. Röbi muss eine ganze Weile nicht im Unterricht gewesen sein. Und vermutlich war er immer noch weg, als ich den Text aufgenommen habe, sonst hätte ich ihn wohl nicht aufgenommen. Aufgenommen, um ihm die Kassette zu schicken. Damit er alles in sein Heft eintragen kann, während er noch zu Hause ist und wir weiterhin zur Schule gehen. Ist das plausibel? Oder gibt es andere Szenarien, in denen ein so langes Diktat, auf einer Kassette aufgenommen, sinnvoll erscheinen könnte? Das Einzige, was klar ist: die Aufnahme ist da.

Nach dem grossen Titel 'Amerika' geht's dann los mit ersten Anweisungen, was zu tun sei:

Im Heft sieht das so aus.

Und dann ein erster Überblick über dieses Amerika. Hier ein Ausschnitt:

Dass wir 1971 in einer andern Zeit lebten als heute, merkt man etwa beim Abschnitt zur Bevölkerung des amerikanischen Kontinents. Eine ganze Sammlung von Ausdrücken findet sich da, die im besseren Fall heute einfach nicht mehr gebraucht werden, im schlechteren, bei Gebrauch, jemandem die Stelle kosten können – man denke nur an die Debatten um das 'N-Wort'. "Indianer und Eskimos im Norden, Indios im Süden", diktiere ich da etwa, und so steht es auch im Heft. Die Zahl der "Neger" belaufe sich auf 40 Millionen: "In den Südstaaten seit 1506 als Sklaven aus Afrika nach den Pflanzungen gebracht."

Das Diktieren war nicht immer ganz einfach:

Von den Gebirgsformationen der Kontinente über die Zusammensetzung der Bevölkerung und die geschichtliche Entwicklung bis zur Bedeutung des Mähdreschers in der US-Landwirtschaft: all das deckte das lange Diktat ab. Bis es dann endlich fertig war.

Hat Röbi alles schön in sein Heft übertragen?

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Der Zeitpunkt der Aufnahme lässt sich nur abschätzen: wir haben in der dritten Bez zuerst über Afrika gesprochen, dann über Amerika. Zwei Drittel des Heftes füllt Afrika aus. Es muss also im Spätherbst 1971 gewesen sein.