16. Januar 1972, Sonntag: Jugend geht in Scharen…

Gibt es einen Grund, weshalb man heute einen Abreisskalender haben sollte?

Schon vor dem Aufstehen sagt mir ein flüchtiger Blick aufs Mobiltelefon, wie früh es ist, und dass heute Sonntag, der 16. Januar ist.

Bei uns zuhause hatten wir damals einen Abreisskalender. Meine Grossmutter riss die Blätter jeweils ab. Ein Mobiltelefon hatte sie nicht, und ihre Uhr hatte nicht einmal eine Anzeige für das Datum. Vermutlich wusste sie zwar auch ohne Abreisskalender, welchen Tag sie hatte, aber sicher ist sicher.

Und ausserdem war, damals wie heute, die Kalenderangabe wohl nur der vordergründigste Anlass, jeden Tag einen Zettel abzureissen. Abreisskalender waren und sind viel mehr: Lexikon, Alltagshilfe und Quell von Lebensweisheit im Miniformat.

Wusste meine Grossmutter, dass Arturo Toscanini, der "berühmte Dirigent", am 16.1.1957 gestorben war? Vielleicht hatte sie damals seinen Tod beiläufig mitbekommen, war aber zu jenem Zeitpunkt wohl eher damit beschäftigt, dass ihre Tochter, meine Mutter, kurz vor ihrer ersten – meiner – Geburt stand.

Vielleicht hat sie auch den guten Rat vom VOLG zur Kenntnis genommen, dass es gerade im Winter, der "sonnenarmen Jahreszeit", wichtig sei, genügend Vitamin C zu sich zu nehmen, um "gegen Erkältungen, Müdigkeit und Arbeitsunlust" gewappnet zu sein. Der Orangensaft VOLG SUNUP, "100 % naturrein" würde da sicher helfen, denn, klar: "Vorbeugen ist besser als heilen!"

Vielleicht waren die Sterne in der Nacht gut sichtbar: es war Neumond an jenem Tag. Auch darüber gab der Kalender an jenem 16. Januar 1972 Auskunft.

Doch all dies war kaum der Grund, weshalb meine Grossmutter gerade diesen Zettel aufbewahrte. Ich glaube, es war das schwedische Sprichwort auf der Vorderseite:

Jugend geht in Scharen, 
die Reife in Paaren, 
das Alter allein.

Ich habe den Zettel, wenn ich mich richtig erinnere, in der Nachttischschublade neben ihrem Bett gefunden, als sie starb im Herbst 1972.

Ja, das stimmt wohl, habe ich mir gedacht, damals in meiner Trauer, und habe den Zettel auf die Seite gelegt. Der Lauf der Zeit. Ich, jetzt, als Viert-Bezler. Und ein ahnungsvoller Blick voraus.