20. November 1972, Montag: Von allen Dingen

Manchmal findet man sich selber in der Schule.

Am Morgen sitzen wir bei Caduff im Deutsch. Besprechen das Gedicht 'Von allen Werken' zu Ende, das wir letzte Woche begonnen haben.

Bertolt Brecht: Von allen Werken

Von allen Werken die liebsten
Sind mir die gebrauchten.
Die Kupfergefässe mit den Beulen und den abgeplatteten Rändern
Die Messer und Gabeln, deren Holzgriffe
Abgegriffen sind von vielen Händen: solche Formen
Schienen mir die edelsten. So auch die Steinfliesen um alte Häuser
Welche niedergetreten sind von vielen Füssen, abgeschliffen
Und zwischen denen Grasbüschel wachsen, das
Sind glückliche Werke.

Eingegangen in den Gebrauch der vielen
Oftmals verändert, verbessern sie ihre Gestalt und werden köstlich
Weil oftmals gekostet.
Selbst die Bruchstücke von Plastiken
Mit ihren abgehauenen Händen liebe ich. Auch sie
Lebten mir. Wenn auch fallengelassen, wurden sie doch getragen.
Wenn auch überrannt, standen sie doch nicht zu hoch.
Die halbzerfallenen Bauwerke
Haben wieder das Aussehen von noch nicht vollendeten
Gross geplanten: ihre schönen Masse
Sind schon zu ahnen: sie bedürfen aber
Noch unseres Verständnisses. Andrerseits
Haben sie schon gedient, ja sind schon überwunden. Dies alles
Beglückt mich.

Ruinen, Sizilien, 1980/81

Tagebuch: "Caduff war wieder einmal in Form. Bei jeder Zeile fand er eine Deutung, eher eine Überdeutung. Gabeln und Messer und andere Gebrauchsgegenstände in unserer westlichen Welt gingen in 'utilitaristische Werkzeuge' über, die Ruinen der Akropolis erwachten zu glanzvollen Palästen. (spöttisch ich zu Röbi: 'Unter der Autoradkappe in einem Baum am Bach muss man sich wieder das ganze Auto vorstellen.')"

Hahaha. Natürlich: man muss es nicht so sehen, aber man kann. Die zerschlissene Radkappe gehörte einmal zu einem ganz bestimmten Auto, in dem jemand sass, als die Kappe wegflog; die Radkappe, das Auto, die Person: alle mit ihrer Geschichte. Und in der Radkappe sind all diese Geschichten aufgehoben.

Mir muss damals schon klar gewesen sein: Ähnlich wie Brecht dachte auch ich. Die gebrauchten Messer und Gabeln, die abgewetzten Steintreppen, die zerfallenen Bauwerke: nicht die Materie macht ihren Wert aus. Wertvoll sind sie wegen den Geschichten, die in ihnen leben. Mein Fülli aus der Schulzeit – die Single, die ich immer noch habe, obwohl sie scherbelt (und die man heute problemlos streamen könnte, in perfekter Qualität) – der Staenz, der auseinanderfällt: ohne ihre Geschichten, die es nur in meinem Kopf gibt: nur wertlose Materie.

Link zur Füllfeder

Dass ich damals schon so dachte: auch das geht aus dem Eintrag im Tagebuch hervor: "Die Zuneigung im Gedicht zu alten, gebrauchten Gegenständen führte er [Caduff] quasi auf den Kommunismus zurück. Da müsste ich ja teilweise einen unerhörten Drang zu diesem Staatssystem haben."

Wie wird man eigentlich, wer man ist? (Wie wurde man, wer man war?)