Aufsätze in der vierten Bez

Der Lehrplan für die Bezirksschulen aus dem Jahr 1972 sieht für die vierte Klasse – wie schon für die dritte – "mindestens 10 Aufsätze" vor.

Lehrer Caduff liess uns immer wieder aus einer Auswahl von Themen wählen. Das ergibt sich schon daraus, dass Pia und ich manchmal zu unterschiedlichen Themen schrieben; es liegen in unseren Aufsatzheften der vierten Bez aber auch eine Anzahl vervielfältigter Blätter, auf denen Caduff die Themen und die genaue Aufgabenstellung notiert hatte.

 

Aufsatz Nummer 1, 15. Mai 1972: 'Warum ein Film mich beeindruckte'

Gab es hier mehrere Themen zur Auswahl? Es deutet nichts drauf hin, Pia und ich haben über das gleiche Thema geschrieben, und es liegt kein Aufgabenblatt vor. Näheres dazu hier.

 

Aufsatz Nummer 2, 31. Mai 1972: 'Wenn die Nacht hereinbricht'

Pia begleitet zunächst "Krankenschwester Andrea" während des Nachtdienstes. Dann berichtet sie von "Frau Leuzinger", die nach der letzten Vorstellung im Kino Apollo in Zürich aufräumt. "Es ist keine Menschenseele mehr da, man riecht nur noch den Zigarettengeruch. Sie geht zwischen den Reihen durch und sammelt die Glace- und Schokoladenpapiere, die Kaugummihüllen und Zigarettenstummel ein." Rauchen im Kino? Es ist schon so lange verboten, dass ich zuerst stutze und denke: hier hat Pia fantasiert. Aber nein. Damals hat man im Kino tatsächlich geraucht. Schliesslich lernen wir im Aufsatz noch den "Sekuritaswächter Huonder" kennen, der seine Runde in einer Bank dreht.

Bereits in den ersten sieben Zeilen von Pias Aufsatz macht Caduff auf zwei 'typische' Fehler aufmerksam: Regel eins: wähle nicht zweimal das gleiche Wort für die gleiche Sache. Wenn Pia also in zwei Sätzen zweimal das Verb 'beginnen' wählt, unterwellt dies der Lehrer und notiert ein W am Rand. Das war keine Eigenheit von Lehrer Caduff; alle andern Deutschlehrer haben das auch so gelehrt. Wie oft habe ich später, als ich beim Radio arbeitete, gegen diese Regel geschimpft, eine Regel, die etwa Fussballreporter dazu animiert, von 'Leuchtenstädtern' zu reden, die sie kurz vorher einfach 'Luzerner' genannt haben. Und Regel zwei: schreibe stilistisch einigermassen gehoben. Caduff liest nicht darüber hinweg, wenn Pia schreibt, jemand habe einen "Selbstmordversuch gemacht"; 'gemacht' ist unterwellt, und darüber hat Caduff "unternommen" hingekritzelt.

Bei mir geht, wenn die Nacht hereinbricht, "Olga Schreiber ins Kino Rex". Auch sie räumt auf, was andere hinterlassen haben. "Hans Schmid" macht eine nächtliche Tour durch eine Bank und hofft, nicht Opfer eines Überfalls zu werden. Und "Kurt Zwimpner" fährt nach Hause nach einem langen Tag als Reiseführer einer Gruppe von AmerikanerInnen.

Beide haben wir zuerst einen Sudel [einen Entwurf?] auf ein Blatt geschrieben und den Aufsatz dann schön ins Heft übertragen.

 

Aufsatz Nummer 3, 16. August 1972: 'Persönliche Eindrücke der Aufführung im Kurtheater Baden' (PW) / 'Die Uniform als Aushängeschild einer fragwürdigen Staatsdoktrin' (TK)

Offenbar haben wir im Sommer 72 Carl Zuckmayers 'Hauptmann von Köpenick' gelesen und das Stück im Kurtheater Baden gesehen. Daraus leitet Caduff vier Aufsatzthemen ab, die er uns vorsetzt. Er gibt zudem recht detaillierte Anweisungen, wie die Aufgaben zu verstehen sind.

Pia äussert sich zu ihren Eindrücken im Theater. Sie vergleicht sie auch mit jenen aus der Lektüre: "Wenn man ein Stück liest ist man nicht an eine Vorstellung gebunden, man kann der eigenen Phantasie freien Lauf lassen, im Theater dagegen wird man praktisch zu einer Vorstellung gezwungen."

Wir müssen recht intensiv über die historische Einordnung des Stücks gesprochen haben. Sonst hätte ich mich kaum auslassen können über den Sieg der Deutschen in der Schlacht von Sedan 1870, die Stärkung des deutschen Nationalgefühls nach diesem Sieg und die damit verbundene symbolische Aufladung der Uniform.

 

Aufsatz Nummer 4, 20. September 1972: 'Zweierlei Musik' (PW) / 'Wie ich die Umweltverschmutzung erlebe und was ich dazu denke' (TK)

Pia vergleicht Beat und klassische Musik: was beide auszeichnet. Sie hört beide gern – und doch zu ganz unterschiedlichen Anlässen. "Auch muss man sagen, dass man sich klassische Musik vielmals anhören kann, ohne dass einem die Schallplatte verleidet. Beim Beat hingegen gefällt einem eine neue Platte und wenn man sie einige Male gehört hat ist es wieder vorbei damit und es kommen wieder andere."

Was habe ich über die Umweltverschmutzung gedacht? Unter anderem: "Einmal wird der Zeitpunkt gekommen sein, da der Mensch schon zuviel vernichtet hat, von dem es kein Zurück mehr gibt." Aber auch: "Wir wohnen hier nicht weit von der Stadt Zürich entfernt, von einer Stadt, die auf der Liste der meistverschmutzten Städten Europas unter den ersten zehn steht. Jedesmal, wenn ich dorthin fahre, bekomme ich Angst, vielleicht auch einmal in so einer Stadt leben zu müssen." Und jetzt lebe ich seit Jahrzehnten in Zürich. Aber es stimmt schon: heute kann man sich den damaligen Gestank der Auspuffe bei Rot an einem Zebrastreifen gar nicht mehr vorstellen.

 

Aufsatz Nummer 5, 25. Oktober 1972: 'Ich begegne ihm (fast) jeden Tag'

Pia liefert eine überaus präzise Beschreibung eines Mannes, den sie jeden Tag sieht, wenn er über den Mittag nach Hause kommt. Vermutlich ein Lehrer. Kittel, Anzug, "tolles Hemd mit einer popigen Krawatte" und "eine gute, noch sportliche Figur." Wer mag es gewesen sein?

Bei mir: Oh, Überraschung! Ein Porträt des BDB-Kondukteurs Galli. 'Papa Gallo' mit Übernamen. "Wenn man das so liest, könnte man meinen, dieser Mensch sei völlig übergeschnappt. Doch auch die Schüler sind in nicht geringem Masse daran schuldig, dass er sie nicht zu seinen besten Freunden zählt."

 

Aufsatz Nummer 6, 15. November 1972: 'Täglich lassen vier Schweizer bei Verkehrsunfällen in unserem Lande ihr Leben' (TK) / 'Der Schnee als Freund und Feind des Menschen' (PW)

Weshalb gibt es so viele Verkehrsunfälle? Trinken, rasen, aber auch: "… man sollte den Führerausweis nicht jedem beliebigen Trottel in die Hand drücken und sagen: 'So, da haben Sie ihn, schauen Sie, dass Sie keinen Unfall produzieren'. Man sollte auch ein bisschen mehr auf den Charakter desjenigen schauen."

Pia listet neben vielen Gefahren ("…wie dann anderntags die Autos mit ihren Sommerpneus am Mutschellen stecken bleiben.") und Freuden des Schnees ("Kleine Kinder ziehen dann oftmals sofort los mit ihren Schlitten.") auch Situationen auf, in denen Freud und Leid nahe beieinander sind: "Ich bin auch eine begeisterte Skifahrerin, aber man muss immer die Augen offenhalten, man kann nicht träumen dabei. Sonst kann es zu schrecklichen Dingen kommen, …"

 

Aufsatz Nummer 6a, 21. November 1972: 'Schluss einer Erzählung'

In Pias Heft findet sich noch ein zweiter Aufsatz Nummer 6, am 21. November geschrieben. Bei mir ist der gleiche Aufsatz im Übungsheft gelandet. Eine Art Kurz-Aufsatz. Das Ende zu einem Anfang, von dem man im Aufsatz nichts erfährt.

 

Aufsatz Nummer 7, 10. Januar 1973: ' "Man muss mit der Mode gehen" ' (PW / TK)

Im Tagebuch, das ich ab November 72 führte, stehen die andern drei Themen: 1. 'Mein Verhältnis zur Welt der Musik' / 2. 'Was ich im Jahr 1972 für besonders wichtig hielt' / 3. 'Ist die Leistung (Schule, Berufsleben) ein Gradmesser für den Menschen'. Pia und ich haben uns beide fürs Mode-Thema entschieden.

Pia berichtet darüber, was sich alles ändert oder geändert hat: Mehr Hosen für die Frauen statt Jupes und Röcke; Wechselnde Vorlieben, was Ferien-Destinationen angeht. Und natürlich: die Haare: "Viele Eltern haben jeweils grosse Mühe, ihre Söhne zum Coiffeur zu schicken. (…) Ich bin dafür, dass jemand lange Haare trägt, wenn es ihm steht und wenn er sie pflegt." Manchmal sei es aber so, "dass es ein Graus ist."

Mode in meinem Aufsatz: Schallplatten, die man kauft, weil der Nachbar sie hat; "klobige" Skischuhe und "grellbunte" Skianzüge; und natürlich auch die Haare: "Es ist doch so, dass derjenige junge Mann, der seinen 'Zopf' am längsten, wenn möglich noch am scheusslichsten trägt, bei den jungen Frauen am meisten Chancen hat." Aha. Aber nicht bei Pia!

 

Aufsatz Nummer 8, 14. Februar 1973: 'Lärm' (TK) / 'Ist es unerlässlich, dass ein Schüler zwischen 13 und 16 Jahren ein eigenes Zimmer hat?' (PW)

Thema Nummer drei, ein Kommentar zu einer Fotografie, haben weder Pia noch ich gewählt.

Muss jemand im jugendlichen Alter ein eigenes Zimmer haben? Pia: "Ich erachte es nicht als unerlässlich, ein eigenes Zimmer zu besitzen, aber es ist jedenfalls besser!" Der Schluss ist sorgfältig hergeleitet, wie das Sudelblatt zeigt:

Bei mir der Lärm. Da lese ich einen Ausdruck, den ich schon Jahre nicht mehr gehört habe; jetzt erinnere ich mich, dass meine Mutter ihn manchmal gebraucht hat – ich offenbar auch: "…die Leute schnattern miteinander." Den Lärm gibt es vor allem dort, wo es viele Menschen gibt: in den Städten. Der Mensch passt sich an und wird in einer künstlichen Umwelt "zu einer Art künstlichem Mensch". Oder er entflieht dem Lärm, wann immer er kann, "hinaus aufs Land, wo er seine Ruhe hat."

(Tagebuch 14.2.1973: "Es ist mir vor wenigen Minuten eingefallen, dass ich einiges am Thema vorbeigefahren bin. Hoffentlich merkt Caduff das nicht.")

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Veröffentlicht: 17. August 2022