22. Oktober 1969, Mittwoch: Der Unfall mit der BDB

BDB 1969. © 2015 – 2018 Ruth Hintermann

Die neuen BDB-Züge waren wirklich noch ganz neu: Die NZZ sprach von einem "Markstein in der Geschichte der BD" und berichtete in einem ganzseitigen Artikel über die "völlig neue Aera", die auf den Fahrplanwechsel am 1. Juni 1969 begonnen hatte. Neun neue Triebzüge ersetzten das bisherige Rollmaterial. Um die neue Ära anzuzeigen, wurde auch die Farbe gewechselt: aus Hellblau wurde Rot.

Die neuen Züge waren also noch keine fünf Monate im Einsatz, als man in der Morgenausgabe der NZZ am 23. Oktober lesen konnte:

Auch der Bremgarter Bezirksanzeiger berichtete am 24. Oktober auf der Frontseite prominent in Wort und Bild.

Gut zwei Wochen später schreibe ich einem Aufsatz:

 "Am 22. Oktober 1969 hatten wir die Schule schon um zehn Uhr aus. Vergnügt schlenderten wir zum Bahnhof hinauf und besprachen noch, was wir am Nachmittag tun könnten, und wieder einmal entschlossen wir uns für Fussball. Es regnete nicht, aber dichter Nebel lag über unseren Köpfen, sodass man keine zehn Meter vorwärts sah. Die BDB kam pünktlich um 10 Uhr 14 an und wir stiegen alle ein, ohne zu ahnen, was noch an diesem Morgen passieren würde. Alles ging gut bis knapp vor der Haltestelle 'Heinrüti'. Ich übergab Werner eben eine Zeitung, die ich unter der Bank gefunden hatte, als ich einen heftigen Ruck spürte."

Und 50 Jahre später erinnert sich Hömi (Urs Humbel), der ebenfalls im Zug sass:

(Der Anfang)

Wie es zum Unfall kam, schildert die Anklageschrift vom 22. Oktober 1970 (genau ein Jahr danach) wie folgt:

Der Wagenführer "führte am 22. Oktober 1969 als alleiniger Bediensteter den fahrplanmässigen Triebwagen BDe 8/8 Nr. 1 mit Zugsnummer 544 der Bremgarten-Dietikon-Bahn von Dietikon gegen Bremgarten. Auf der unbedienten Station Heinrüti hielt er um 1019 Uhr für die fahrplanmässige Kreuzung mit dem Triebwagen BDe 8/8 Nr. 4, Zug Nr. 541, nicht an, obwohl er den Dienstfahrplan noch beim Befahren der Heinrütikurve kontrolliert hatte, dann aber seine Aufmerksamkeit darauf verwendete, zu überprüfen, ob ein Fahrgast aussteigen wollte oder nicht. Als er mit dem Zug in direkter Fahrt bis etwa 150 Meter unterhalb der Station Heinrüti angelangt war, gewahrte er plötzlich in einer Linkskurve auf etwa 15 Meter den entgegenkommenden Zug Nr. 541. Trotz sofortigem Notstop und zusätzlicher Luftbremsung war der Zusammenstoss bei 35 km/h eigenem und 40 km/h Tempo des Gegenzuges unvermeidlich."

Im Aufsatz steht: "Ich wollte mich noch rasch halten, aber Sekundenbruchteile nach dem Ruck klirrte es. Es schleuderte uns heftig nach vorne, dann verlor ich für einige Sekunden das Bewusstsein. Als ich die Augen wieder öffnete, stand ich da, ein fremdes Taschentuch in der Hand. Auf dem Boden der Bahn hatte sich inzwischen ein See von Blut geformt."

Und Hömi erinnert sich:

(Erste Eindrücke nach dem Zusammenstoss)

(Nur raus!)

Mit meiner Nase war etwas nicht in Ordnung. Ich erinnere mich, wie mir schlecht wurde, als ich merkte, dass ich sie teilweise abheben konnte: der Mittelsteg war kaputt und ein Teil des Nasenflügels gerissen. Im Aufsatz steht: "In dieser Zeit schwoll meine Nase immer mehr an und sie schmerzte auch mehr. Auf einmal hörte ich die Stimme Danis: "He! Kommt hierher, da ist die Güterwarentüre offen!" Wir sprangen hinaus."

(Die Feder als Kanonenkugel)

(Die Frau mit dem Schirm)

(Der Wagenführer ist tot)

(Der verwirrte Kondukteur)

In meinem Aufsatz steht: "Dani und Werner stützten mich und wir liefen zum nächsten Haus und läuteten dort. (…) Ich setzte mich auf ein Bänklein. Endlich öffnete eine Italienerin die Türe. Dani fragte schnell, ob sie ein Telephon habe. Sie verneinte und zeigte uns das nächste Haus. Dani rannte fort."

(Nach Hause)

Eben, Dani war ins Nachbarhaus telefonieren gegangen. "Nach einer Weile kam er wieder und sagte mir, es warte ein Auto auf mich. Es war meine Grossmutter, die von einem Nachbarn hinuntergefahren wurde. Wir liefen an die Hauptstrasse hinunter, stiegen alle ein und fuhren heim."

(Der Abschluss)

Die beiden Züge, nachdem man sie auseinandergezogen hatte. Foto: Sammlung F. Winterberger. Aus: Florian Inäbnit, Jürg Aeschlimann: Bremgarten-Dietikon-Bahn. Leissigen 2002.

Die Anklageschrift führt aus: "Beim Zusammenstoss wurde eine Person tödlich verletzt, eine weitere fand an den Folgen des Zusammenstosses nachträglich den Tod und 40 weitere Fahrgäste wurden verletzt. Der Sachschaden am Bahneigentum erreichte rund FR. 350'000.–."

Der Strafantrag für den Angeklagten lautete: 6 Monate Gefängnis, bedingt auf 2 Jahre Probezeit. Ausserdem sollten ihm die Verfahrenskosten auferlegt werden.

Am 4. März 1971, anderthalb Jahre nach dem Unfall, fällt das Bezirksgericht Bremgarten das Urteil. Es spricht den Wagenführer "schuldig der fahrlässigen Störung des Eisenbahnverkehrs (…), der fahrlässigen Tötung (…) sowie der fahrlässigen Körperverletzung (…)" und bestraft ihn mit 4 Monaten Gefängnis bedingt bei einer Probezeit von zwei Jahren.