15. Februar 1973, Donnerstag: Im Keller geschnappt

Ein vergittertes Tor, verschlossen. Ein wenig zurücktreten, dann sieht es so aus:

Aha, das Schulhaus in der Nähe. Ob es mit diesem vergitterten Tor etwas zu tun hat?

Am 9. Januar 1973 hatten wir über Mittag – die erste Stunde am Nachmittag war frei – das bekannte Gelände im Schulhaus erstmals verlassen, hatten uns in den Estrich und den Keller gewagt. In den Tagebuchaufzeichnungen ist an diesem Tag nach einigen kurzen Ausführungen eine Seite leer: vielleicht wollte ich etwas nachtragen und tat es dann doch nicht.

Jedenfalls: am 5. Februar, wiederum über Mittag, tauchen wir erneut in den Keller. Tagebuch-Eintrag: "Wir entdeckten eine ganze Reihe alter Militäranlagen, so auch ein Telephon, das wir zu benützen denken in Zukunft. Jetzt wissen wir, wo wir unsere Versammlungen abhalten werden. Schade, dass wir diese Anlage erst so spät entdeckt haben."

8. Februar: Der Raum unter dem Boden hat einen Namen bekommen: die 'Zentrale'. Wir essen dort zu Mittag. Röbi schickt sich an, den alten Radioapparat auseinanderzunehmen. "Alles, was dabei herauskam, war ein Kurzschluss, wir sassen im Dunkeln."

9. Februar: "Wie immer jetzt gehen wir in die Zentrale." Auch U. weiss jetzt davon. "Heute ging nach dem Radio auch noch das Telephon kaputt. Wir machten dabei einen enormen Fehler. N. ging auf die Post und telephonierte dem Stördienst, die Nummer 5 23 00 sei gestört. Danach wurden wir zweimal angerufen, einmal meldete sich niemand (Stördienst?), das zweitemal waren wir schon aus dem Keller heraus, aber wir hörten es läuten. Ich habe schwer das Gefühl, dass wir uns verraten haben. Wenn das ganze Ding nur nicht auffliegt, sonst sind wir dann bös dran."

13. Februar: "(…) Die 5 Stunden am morgen gingen vorbei, langweilig wie noch nie. Dann gingen wir in die Zentrale. Es verlief alles gut, nachdem uns Saxer gestern ertappt hatte, als wir aus dem Keller kamen. Doch das ganze sollte sich noch wenden. Etwa um 10 nach zwei läutete das Telephon. Nicht für uns. R. nahm ab und hörte jemanden sagen: 'Fräulein, könnten sie mich bitte mit 5 23 00 verbinden.' Da wussten wir natürlich, was es geschlagen hatte. Und prompt, 15 Sekunden später schrillte das Telephon bei uns. Nichts wie weg." Aufbruch. Wir [C., D., A., F., R. und ich] nahmen unsere provisorische Heizung ab, montierten alle Birnen wieder ein, räumten alles auf. Dies alles in Blitzesschnelle. In der ersten Hälfte des Kellers waren bereits Stimmen zu vernehmen. Wir konnten nicht hinaus. Auf der einen Seite die Männer, auf der anderen das Gitter. Wir waren darauf gefassst, dass jeden Augenblick jemand kommen musste. R. hatte an der Tür zu Daenikers Zimmer gelauscht und diesen laut fluchen hören. Er sagte sogar: 'Jetzt bekommen wir es noch mit dem Zivilschutz zu tun.'"

An dieser Stelle findet sich im Tagebuch ein Plan der Anlage:

"Wir standen da, lautlos, dann dachten wir uns aus, was wir sagen wollten, wenn man uns erwischen würde, und was dann passieren würde. Auf einmal hörten wir am Gitter jemanden pfeifen. Es waren A. und N.. Sie sagten uns, zwei reparatöre seien in den Keller gestiegen. Wir waren eingeschlossen. Unsere Angst wuchs, aber wir mussten hinaus. R. ging nochmals bei Daeniker lauschen, dann brachen wir auf. Eine Tür nach der anderen. Leise wie möglich.  D. und ich mussten noch alle Türen schliessen. So bekamen wir einen schönen Rückstand auf die anderen. Wir hörten die Kellertüre schletzen, die anderen waren draussen. Alles war gut gegangen. Dann, als wir auf die letzte Panzertüre zuschritten, sahen wir im Licht des Zwischenspaltes 2 Männer, die alle Türen abschritten. Jetzt war alles aus, dachten wir. Wir warfen uns zurück. Aber zur 2. Panzertüre konnten wir nicht mehr. D. verkroch sich in einen Schrank, ich ging hinter den Schrank und versteckte mich dort. Einige Minuten blieben wir regungslos. Dann sah ich hervor, sah die beiden Männer in einer Tür verschwinden. D. sagte mir, wir sollten gehen. Wir gingen. Das Herz klopfte mir. Langsam stiegen wir die Treppe hinauf und gingen hinaus."

15. Februar: "Über Mittag waren wir wie gewöhnlich in der 'Zentrale', obwohl wir den Schrecken von Dienstag noch nicht vergessen hatten. R. hatte geträumt, heute würden wir von Steimen geschnappt. Und was geschah? Um 1/4 nach eins kam N. zu rennen, sagte, der Estrich werde durchsucht, vielleicht komme jemand hierher. Wir räumten alles auf und gingen rasch. Doch nach der untersten Panzertüre liefen wir alle Steimen in die Arme, der just aus einer Nebentür kam. Wir lügten uns heraus. Dann gingen wir spazieren. Auf der Brücke zum Schwimmbad trafen wir A., G. und D. Auch sie hatte man erwischt, am anfang des Kellers, vor uns. Wir berieten, was wir sagen wollten, im Falle, dass noch etwas geschehen würde. Aber weder Steimen noch Beni kamen zu uns. Werden wir morgen davon hören? Auf jedenfall ist es einige Zeit aus mit der Zentrale."

Vermutlich war dies das Ende der 'Zentrale', sie taucht während der folgenden Wochen im Tagebuch nicht mehr auf.

Werfen wir nochmals einen Blick auf die Skizze der Anlage und vergleichen sie mit einem Plan des Kellergeschosses aus den 50er-/60er-Jahren. Die Skizze, gedreht und in verschiedene Bereiche unterteilt, ergibt folgendes Bild:

Keller des Schulhauses. Skizze aus dem Tagebuch

Und der alte Plan:

Ausschnitt aus einem Plan des Kellergeschosses, 1956/64. Archiv Stadt Bremgarten

Das erste Hindernis für uns war die Tür, die in den Keller führte. Dort unten waren Lagerräume, und Zeichenlehrer Daeniker hatte ebenfalls einen Raum. Für uns Schüler war der Keller jedenfalls nicht gedacht, wir hatten dort nichts zu suchen. Aber wenn man nun einmal dort war: Ging man am Fuss der Treppe nach links, stand man bald einmal vor einer dicken Tür. Dahinter war auch für die Lehrer terra incognita. Darauf lässt jedenfalls der erstaunte Ausruf eines Lehrers schliessen, den wir aufschnappten, als er sich dort erstmals umschaute: "Ein unglaubliches Raumangebot" sei dies hier unten! Stiess man die dicke Tür auf, kam man erst in den Bereich, der grün eingezeichnet ist, und dann, nach einer weiteren Tür, in den gelben. Doch auch dort war die Reise noch nicht zu Ende: weitere dicke Türen! Sieht man sich den Archiv-Plan an, führen sie, auf der Höhe der Grundmauern des Schulhauses, in den Bereich des Schutzbunkers.

Was wir schliesslich im Schutzbunker entdeckten, versenkte uns tief in die Vergangenheit. Gelebter Geschichtsunterricht sozusagen. Da hingen an den Wänden alte Landkarten; Landkarten mit Pfeilen, die Offensiven markierten, mit Riegeln für die Verteidigungsstellungen. Darstellungen, die ganz offensichtlich mit Krieg zu tun hatten. Alte Telefonapparate. Ein alter Radio. Alles in müffeliger, düsterer Umgebung. Dafür in irgendeinem Raum eine Birne, die viel zu stark war und den Raum in grelles Licht tauchte, wenn man sie anzündete. Irgendwo ein Schrank, in dem Glasflacons lagerten, und ich zweifle selbst an mir und meiner Erinnerung, aber ich meine mich mit Sicherheit daran zu erinnern, dass wir mit Schrecken die Bezeichnung 'Yperit' darauf lasen. Kampfstoff aus dem Ersten Weltkrieg, hier? Es erscheint zu gespenstisch, um wahr zu sein! Und doch: war es nicht so?

Während kurzer Zeit war der Schutzbunker, die 'Zentrale', der Raum für unsere Rückzüge – verbotene Stätte wohligen Schauerns.

Und ja, natürlich: das vergitterte Tor neben dem Schulhaus hat auch etwas mit der 'Zentrale' zu tun: es ist, neben den Panzertüren im Keller des Schulhauses, der äussere Zugang dazu; es ist das Gitter, an dem an jenem 13. Februar 1973 A. und N. standen und pfiffen und uns verzweifelt warnen wollten, dass von der andern Seite Männer in den Keller gestiegen waren und wir in unserem Versteck eingeschlossen seien…