Ein Blick ins Steuerbuch

Im Frühjahr 1972 kannten wir Donald Trump noch nicht. Er war damals zwar erst 25, hatte aber trotzdem schon die Leitung der Immobilienfirma seines Vaters übernommen. Später wurde er Präsident der Vereinigten Staaten und fiel unter anderem dadurch auf, dass er um keinen Preis in der Welt seine Steuererklärung öffentlich machen wollte.

Da kann ich nur sagen: gut, dass Trump nicht Präsident von Widen geworden ist. Da hätte er sich lang sträuben können. In Widen ging es damals noch ganz anders zu und her. Da wurde man sogar noch amtlich darüber informiert, wann man Einblick in die Steuern der Nachbarn nehmen konnte!

Bremgarter Bezirksanzeiger, 25.1.1972

Einzige Bedingung: Einblick gab es nur "während den ordentlichen Schalterstunden des Gemeindesteueramtes". Nein, noch eine Einschränkung: man musste ebenfalls in der Gemeinde steuerpflichtig sein.

Und klar: das galt nicht nur für Widen, sondern für sämtliche Gemeinden des Kantons. Und entsprechend stiess man im Bezirksanzeiger immer wieder auf solche Annoncen.

Man muss sich das einmal konkret vorstellen: Unsere Eltern konnten nach dem Znüni zur Gemeinde gehen, sich dort, falls man sie nicht sowieso kannte, kurz ausweisen, sich dann an einen Tisch setzen und im Steuerbuch zu blättern beginnen. Ah! Nachbar X verdient soundsoviel! Und Nachbarsfamilie Y hat ein Vermögen, das etwa gleich hoch ist wie unseres! Und wenn man sich einen Überblick verschafft hatte, sagte man Adiö und ging wieder. Und überlegte sich zuhause vielleicht noch, ob man gegen die Steuerveranlagung von diesem oder jenem "schriftlich und begründet" Einsprache erheben wollte.

Aus heutiger Sicht geradezu unvorstellbar offenherzige Zustände! Aber: so sah es das Gesetz vor. Im Aargauer Steuergesetz von 19661 steht, Paragraph 84, Absatz 3: "Die Steuerbücher werden in jeder Gemeinde nach Beendigung der Veranlagungsarbeiten täglich zu bestimmten Stunden während 14 Tagen öffentlich aufgelegt." Geregelt ist im Gesetz auch, wer gegen die Steuerveranlagungen der Steuerbehörde Einsprache erheben kann, und was dabei zu beachten ist.

Wenn heute jemand zum Gemeindeamt ginge und fragte, ob er rasch sehen könne, wie hoch das Einkommen oder das Vermögen der Nachbarin ist – ich wage nicht, mir das Unverständnis im Gesicht des Steuerkommissärs auszumalen. Die Zeiten haben sich geändert. Datenschutz und der Schutz der Privatsphäre haben in den letzten Jahrzehnten massiv an Bedeutung gewonnen, und man mag sich fragen, ob da und dort nicht vielleicht sogar des Guten zu viel getan worden ist.

Aber eben: Donald Trump wollte nicht Präsident von Widen werden. Sonst hätten die Widener gewusst, wie hoch sein Einkommen und sein Vermögen war.

 

1 Ein grosser Dank an dieser Stelle an den Rechtsdienst des kantonalen Steueramtes, der mir Auskunft gab über die damaligen gesetzlichen Grundlagen!

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Veröffentlicht: 25.1.2022