28. Februar 1973, Mittwoch: Erika B., unverstanden

"Den grössten Teil durchschaute ich nicht, es war viel zu kompliziert geschrieben."

Die Schule – das grosse Fragezeichen. Wir gehen hin, versuchen zu verstehen – und manches bleibt trotzdem schleierhaft. Das Gedicht von Erika Burkart (Tagebuch: "aus einem Requiem") war so ein Fall.

Was hatte Lehrer Caduff uns da vorgesetzt? In meinem Sammelsurium hat sich kein Text von Erika Burkart erhalten. Im 'Neuen Schweizer Lesebuch', Band 3, das wir vielleicht hatten, ist Erika Burkart zwar mit drei Gedichten vertreten – aber von 'Requiem': keine Spur.

Burkart hatte 1972, im Jahr zuvor also, ihre Mutter verloren, und Ende des gleichen Jahres veröffentlichte der Berner 'Bund' einen Text von ihr mit dem Titel 'Ort der Kiefer. Ein Requiem'. Dieser Text findet sich auch im Gedichtband 'Das Licht im Kahlschlag', der ein paar Jahre später herauskam.

'Ort der Kiefer. Ein Requiem' zieht sich in diesem Gedichtband über sieben Seiten und hat zwölf nummerierte Teile. Nicht alle scheinen mir 'schwierig'. Der Anfang etwa: "Mit Schläuchen gefesselt ans Gitterbett, / durchscheuert von Schmerzen, Mutter, / dein Körper, der immer dünnere Mantel." Daran würden wir in unseren Schulbänken nicht verzweifelt sein.

Aber es gibt auch dunklere Stellen:

8

In mumienbraune Rinde verkleidet,
mit Gold und Feder geschmückt,
abgestiegen zum Staub,
lemurische Pharaonin.

Nicht wischt die steinerne Hand
von der steinernen Stirne die Fliege,
und die Blumen auf Laken und Kissen
sind bloss gemalt. Eingesunken die Augenmonde
unter dem Doppelsiegel der Lider.
Zugewachsen die Höhle des Mundes.

Verweigerung.
Nur das Ohr kelcht sich aus
für die Botschaft des Windes,
der den blinden Falter
scheucht aus der Asche.

War es das, was wir nicht verstanden?

Im Tagebuch steht: "Caduff wunderte sich, warum vielen das Gedicht missfiel. Er sagte, ihn spreche es ausserordentlich an. Als wir zur Deutung übergingen, mussten wir einige Stellen auslassen, weil selbst Caduff nicht stieg. (…) Es ist für mich, jetzt jedenfalls, ein Gedicht, das nur die Autorin voll ansprechen kann, sonst nur sehr wenige oder gar keine. Am Freitag fahren wir damit weiter."

Die Aargauerin Burkart las ihre Texte auch immer wieder in der engeren Heimat. So kündigt der Bremgarter Bezirksanzeiger Ende Januar 73 eine Lesung im Kellertheater an und empfiehlt den Abend wärmstens:

Bremgarter Bezirksanzeiger, 25.1.1973

Am 20. Februar dann, also nur wenige Tage, bevor wir uns mit ihrem 'Requiem' abgeben, berichtet die Zeitung über Burkarts Lesung:

Bremgarter Bezirksanzeiger, 20.2.1973

"Um Zugang zum Werk Erika Burkharts [ja: mit 'h'] zu finden, braucht es ein starkes Einfühlungsvermögen in ihre subtile Welt." Ja, das mag sein. Vielleicht hatten wir dieses Einfühlungsvermögen an jenem Mittwochvormittag bei Caduff einfach nicht. Und wer weiss: vielleicht war Caduff ja ein paar Tage zuvor an der Lesung gewesen und hatte sich inspirieren lassen. Aktuell jedenfalls waren Caduff und sein Gedicht!