Frühjahr 1970: Die Schrift!

Mir ging es in der Schule meistens recht gut, ich habe wenig gelitten. Selten. Aber an eine Episode mag ich mich noch gut erinnern – nicht gerade traumatisch, aber: schwierig. Da wurde mir auch klar, dass die Schule die Kinder manchmal in Schraubstöcke legt, um sie zu formen; und dass nicht alle Schulen gleich funktionieren.

Die ersten vier Primarschuljahre habe ich am Bielersee verbracht. Dort sprach man Französisch. Und als ich in der ersten Klasse schreiben lernte, da war das auf einer weissen Schreibtafel (aus den Tiefen taucht das Wort auf: ardoise), die man mit dem Bleistift beschreiben und dann mit einem kleinen runden Schwamm, den man anschliessend passgenau in einem Döschen versorgte, um ihn feucht zu halten, auch immer wieder putzen konnte. Auf einer Seite waren Linien über die Tafel gezogen, auf der andern war sie kariert. Wie die unterschiedlichen Hefte, die wir später hatten. Und klar: da wir die Buchstaben noch nicht schreiben konnten, hat uns die Lehrerin gezeigt, wie das geht. Hat an der Tafel die Buchstaben hingeschrieben, und wir haben sie nachgezeichnet. Bis wir schreiben konnten. Und auch klar: am Anfang haben wir aus diesem Grund auch alle genau gleich geschrieben. Aber es ging nicht lange, da entwickelte jede und jeder eine eigene Schrift, vermutlich jene Schrift, die am besten zur Person passte. Und als ich dann – schweren Herzens – am Ende der vierten Klasse den schönen Ort am Bielersee verliess, schrieb ich mir den Text des Abschiedslieds in ein kleines Büchlein. Und dieses Lied begann so:

Als ich mit dieser Handschrift nach Rudolfstetten kam, hat unser 5.-Klass-Lehrer vermutlich gedacht: hoppla, der ist nicht von hier. Der schreibt ja das r wie in dieser französischen Schundliteratur!

Da muss man nachhelfen, dachte er sicher. Und ich begriff, dass es einen Unterschied ausmachte, ob man in der welschen Schweiz oder in der deutschen in die Schule geht. Die Umerziehung begann.

Es waren bittere Momente. In den ersten Wochen galt die Devise des Lehrers: hart sein. Ich seh die Seiten noch vor mir, wenn er mir mein Heft zurückgab: mit rotem Stift die ganze Seite durchgestrichen, ein einziges grosses X über die ganze Seite. Immer wieder und immer wieder: die grossen X über die ganze Seite. Nur wegen der Schrift. Und einmal hat mein Nachbar in der Bank einen blauen Stift genommen und einen Punkt gesetzt, dort, wo sich die beiden Linien des X kreuzen, und hat gesagt: "Do isch t Mitti".

Ja, im Aargau schrieb man anders als am Bielersee. Nicht nur das r. Alles. Schön normiert, schön ausgerichtet im Winkel, schräg, immer den gleichen Auftakt beim grossen W, beim grossen H. Und alle schrieben gleich, und ich musste mich beugen und der Hand Zügel anlegen.

Anfang der Bez, im April 69, war meine Schrift eine andere geworden:

Ende November 1969: immer noch ähnlich:

Aber dann, im Übergang von 1969 zu 1970, muss etwas passiert sein.

Die Tinte war immer noch blau, aber die Schrift hatte sich verändert. Ende Februar hatte sie sich entschnörkelt und aufgerichtet.

Das war nicht nur im Aufsatzheft so. In der Geografie geschah es mitten im Kanton Bern: Der Abschnitt 'Die 3 Stuben des Bernbiets' war noch alte Schrift, 'Das Berner Oberland' neue. In der Geschichte fand der Wechsel statt zwischen 'Die Glaubensboten aus Irland' und 'Der Islam'.

Was war passiert? Das ok der Lehrerschaft, man könne jetzt schreiben, wie man wolle? Wohl kaum – das Fach Schreiben mussten wir ja nach wie vor besuchen! Ein pubertärer Hormonschub, der in die Hand fuhr? Die 'alte Schrift', die sich der Demütigungen und Züchtigungen entledigte und wieder an die Oberfläche drängte – wenn auch ohne das französische r aus der Schundliteratur? Keine Ahnung. Aber auffällig ist es schon.