Von Namen und Übernamen

"Habt Ihr untereinander einen Privatcode, einen Schatz von Ausdrücken und Bedeutungen, der Euch allein gehört? Wenn ja, so liebt Ihr Euch. Wenn nein, dann nicht."

Ich war an der Uni, als das Buch erschien, ich habe es gelesen und zu meinen Lieblingsbüchern gestellt: Ernst Leisi, 'Paar und Sprache'.

Weshalb geben Liebende einander immer wieder neue Namen, manchmal in grosser Zahl? Weil sie jemanden aus den bisherigen Beziehungen herauslösen wollen; weil sie so die geliebte Person neu schaffen; weil mit dem Namen die neue Beziehung besiegelt wird als einzigartig.

Was ich bei Leisi las, leuchtete mir unmittelbar ein, und ich dachte immer: genau so ist es – aber nicht nur unter Liebenden, sondern auch unter Freunden. Vielleicht sind Freunde ja auch Liebende, in gewisser Weise.

Wie die Unterschrift einer Person sehr viel mehr ist als ihr blosser Name, ja deren ganze Persönlichkeit in sich trägt, so ist auch ein Übername mehr als der Name: er ist Ausdruck einer Beziehung.

Vermutlich Anfang der Bezirksschule habe ich ein kleines kariertes Heft angelegt, das eingangs mit 'Meine Freunde' überschrieben ist.

Jede Seite ist einem Freund zugeschrieben: mit Wohnort, Geburtsdatum, Telefonnummer und – Übernamen.

Röbi hiess eigentlich Robert. Aber hätten wir Röbi Robert nennen können? Deshalb hiess er eben Röbi. Die meisten von uns nannten ihn so, auch die Lehrer, und auch seine Eltern. Röbi ist 15 Grad wärmer als Robert, man ist ihm näher, dem Röbi, und er selbst ist einem ebenfalls näher.

Es ist wie bei Adjektiven: man kann auch Namen steigern. Robert wäre demnach die Ausgangsform, die offizielle Variante, wie sie im bürokratischen Namensregister steht. Röbi der Komparativ: der alltägliche Name für die vielen, die Röbi kennen, der Name, mit dem sie ihn ansprechen. Der Superlativ schliesslich ist den Freunden vorbehalten. Es ist ein Name, oder oft: es sind Namen, die nur wenige brauchen und nur wenige kennen. Zuweilen klingt darin das Original an, dann sind Rückschlüsse auf den Träger möglich: Möri Büller etwa in meinem Heft, oder Müli Boy. Manchmal sind aber auch keine Verbindungen ersichtlich. So nannte ich Röbi eine Zeitlang Seppli – was mir, als ich die Kassette mit dem Diktat nach Jahrzehnten zum ersten Mal wieder hörte, nicht mehr bewusst war. Diese Namen sind alle 50 Grad wärmer als Robert und für viele zu heiss. 

Wer war Nihil Ovambo Plasmon? Und wie kam es zu diesem Namen?

Alfred hiess in der Steigerungsform Fredi oder Alfi, wurde später unter Freunden in Anlehnung an Fredl Fesl aber auch zum Fesl und zum Friidi ("en Hunderter für de Friidi"), unterschrieb im Februar 1973 eine Postkarte aus den Skiferien in Andermatt mit Sigi-Boy und wurde zwischendurch sogar als de Volvo? angesprochen.

Mit den LehrerInnen waren wir nicht befreundet. Aber es wäre absurd zu sagen, wir hätten keine besondere Beziehung zu ihnen gehabt, manchmal im Guten, manchmal im Schlechten. Und so wurden auch sie Träger von Übernamen. Auf der Vorderseite des Staenz-Vocabulaire haben sich einige erhalten:

Meine Mutter sagte mir manchmal, auch später: Tue nöd immer die Näme verhunze. Aber so war es nicht. Übernamen bekommen nur Leute, die einem etwas bedeuten.

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29.3.2022