8. März 1970, Sonntag: Das Rennen auf der Rindliweid

Die Rindliweid ist nicht die Streif. Und Rudolfstetten nicht Kitzbühel. Aber Bernhard Russi ist auch nicht als Weltmeister auf die Welt gekommen; auch er rutschte zuerst in Andermatt die Hügel hinunter.

In Rudolfstetten kannte man Russi spätestens seit dem 15. Februar, dem Tag, an dem er in Val Gardena die WM-Abfahrt gewonnen hatte.

Das Rennen auf der Rindliweid wurde sogar in der Zeitung angekündigt: am 27. Februar meldete der Bremgarter Bezirksanzeiger: "Am kommenden Sonntag, 1. März 1970, führt der Turnverein ETV das traditionelle Kinderski-Rennen [Kinder-Skirennen?] auf dem Gelände der Rindliweid Rudolfstetten durch. Startberechtigt sind alle Schulkinder der Gemeinde Rudolfstetten." Die besten drei jeder Kategorie würden eine Medaille erhalten, hiess es weiter, und "Dem schnellsten Rudolfstetter winkt ein besonders schöner Preis." Und da teilnehmen wichtiger ist als gewinnen: "Nicht vergessen sollte man, dass für jeden der Teilnehmer nach dem Wettkampf gratis eine warme Verpflegung abgegeben wird." Anmeldung: am Samstag vor dem Renntag, ab 14 Uhr, beim Ziel auf der Rindliweid. Startgeld – "für Versicherung": 1 Franken 50.

Am 1. März war dann allerdings kein Skirennen. Hatte es über Nacht noch heftig geschneit, so dass die Piste nicht mehr renngerecht vorbereitet werden konnte? Wie auch immer: das Rennen wurde um eine Woche verschoben, auf Sonntag, den 8. März.

Die Rindliweid findet man auf der Karte als 'Weidli'. 

Karte von 1969
Karte von 2018

Auf der Karte von 1969 sieht man, dass man damals praktisch bis zum Schulhaus hinunterfahren konnte. Im Rennbericht des Vorjahres steht denn auch, dass die Piste 400 Meter lang war! Und das Beste: man musste nicht einmal hochlaufen, es gab damals einen Skilift! Unglaublich – ein Skilift in Rudolfstetten. Natürlich: keine geheizte Sesselliftkabine, auch kein Bügellift, und nicht einmal ein Tellerlift, sondern nur ein Seil, das man packen musste und das einen dann hochzog. Aber immerhin! Eine Anfrage bei der Gemeinde, wann der Skilift letztmals in Betrieb war, harrt noch einer Antwort. Aber 400 Meter das Loch hinunterrasen könnte man heute sowieso nicht mehr: man würde in die Häuserfront prallen.

Am Morgen des darauffolgenden Sonntags, am 8. März, schneite es noch ziemlich stark, wie der Sportreporter des Bezirksanzeigers die Woche darauf berichtete. Am Nachmittag dann besserte sich das Wetter: "Etwas kalt, aber ideales Wetter für einen solchen Anlass."

117 Schüler waren am Start. Vielleicht waren darunter auch Schülerinnen. Ich kann mich nicht erinnern. Im Zeitungsartikel wurden sie jedenfalls angesprochen: In einem eigenen Lauf galt es, "den schnellsten Rudolfstetter – oder die schnellste Rudolfstetterin – zu erküren." Der Bezirksanzeiger erwähnt die ersten drei jeder Alterskategorie, da tauchen allerdings nur Buben auf; und eine spezielle Mädchen-Kategorie gab es nicht.

13:30 starten die Erst- und Zweitklässler. Um 14:10 die Dritt- und Viertklässler, die bereits eine etwas längere Strecke haben. Um 15:00 die Fünft- und Sechstklässler. Und um 15:45 die Siebt- und Achtklässler sowie jene aus der 4. Bez. Um zu verhindern, dass sich jemand verletzt, sind einige kritische Stellen mit Strohballen gesichert. Nach diesen vier Alterskategorien gibt es nochmals einen Lauf: ein offenes Rennen um den schnellsten Rudolfstetter, bei dem alle mitmachen können. Der Kurs wird umgesteckt, der Zeitungsartikel spricht von einer Abfahrt, "kombiniert mit etwas Slalom."

Über Lautsprecher wurden den ganzen Nachmittag für die ZuschauerInnen – viele Eltern natürlich – Zwischenzeiten durchgegeben. Und wer nicht gerade Ski fuhr, konnte sich "ein paar heisse Wienerli und eine stärkende Heliomalt" holen. Das Ganze hatte sicher auch einen winterlichen Volksfestcharakter, und das war auch eines der Ziele des Anlasses. Im Vorjahr hatte es in der Zeitung geheissen, dass das Rennen auch dazu diene, sich kennen zu lernen, Bekanntschaften zu schliessen – nicht zuletzt zwischen Leuten "aus dem alten Dorfteil und vom Mutschellen" – "das Dorf krankt am Aneinandervorbeileben der zwei Gruppen."

Heute geben bei vielen Rennen Leuchttafeln sofort die Schlusszeiten an. Damals musste man noch warten, bis man wusste, wie gut man gefahren war. Die Rangverkündigung erfolgte im Untergeschoss der Turnhalle, es war draussen sicher schon dunkel. Wer eine Medaille gewonnen hatte, konnte sie sich allerdings nicht sogleich anhängen, sie wurden den Gewinnern nach Hause geschickt: "Aus zeitlichen Gründen war eine Gravierung bis zum Zeitpunkt des Rennens nicht mehr möglich." Und der 'besonders schöne Preis', den der schnellste Rudolfstetter abholen konnte? Ein paar Ski! Roger Andres war der Glückliche.

PS: Den Hauptpreis, das Paar Ski, spendete Joseph K. K. war eine Art Dorfkönig in Rudolfstetten. Mein Vater bekam einmal Krach mit ihm, sie stritten bis vor Gericht. Später entspannte sich das Verhältnis. Ein Jahr lang ging ich mit seiner Tochter in die gleiche Klasse. Ich hätte zu gern die Skis gewonnen. Es hat dann aber nicht gereicht.

Nachtrag 1: Nachfragen bei Alteingesessenen in Rudolfstetten haben ergeben, dass der Skilift von der damaligen Firma Hüsser Metallbau ermöglicht wurde. Gemäss Paul Hüsser Junior war der Lift von 1960 bis 1970 in Betrieb.

Nachtrag 2: Mädchen haben ebenfalls am Rennen mitgemacht, definitiv. Eine, die dabei war, war Gaby S. Sie war nach eigenen Angaben gut unterwegs, als ihr ein Malheur passierte: Sie fuhr am Ziel vorbei.