29. Februar 1972, Dienstag: Prüfung im Singen

Das Fach Singen. Wir haben viel gesungen im Singen, klar. Zuerst jeweils einsingen – wie man sich aufwärmt, bevor man Sport macht. No – no – no – no – no – no – no, die Oktave im Dreier- und Viererschritt hoch und wieder runter. Dann noch einmal, um eine halbe Note nach oben versetzt. Und noch einmal. Und dann wieder eine halbe Note runter, mit mi – mi – mi – mi – mi – mi – mi. Ewig.

Irgendwie meine ich mich zu erinnern, dass das Büchlein JUNGSANG ziemlich neu war, als wir es bekamen. Es fehlt in meinem Exemplar die eine oder andere Seite am Anfang, vermutlich standen da auch Angaben zum Buch. Die Internet-Suche in den Bibliotheken ergibt, dass es einen 'Jungsang' schon früh gab: von 1934 ist ein Exemplar im Staatsarchiv Luzern aufbewahrt, herausgegeben vom Rex-Verlag in Zug, und der ganze Titel lautet: Jungsang: das Liederbuch der katholischen Jungmannschaft. Ziemlich sicher ein Vorläufer unseres Buches. Es finden sich aber auch zwei Jungsang mit Jahrgang 1969 in den Bibliotheksverzeichnissen. Und die weiteren Angaben dazu zeigen, dass es sich dabei wohl um das gleiche Singbüchlein handelt, das auch wir in der Bez bekommen haben: einmal die gleiche Anzahl von abgedruckten Liedern: 273. Und dann, dass unter anderem an der Auswahl und der Zusammenstellung jemand mitgearbeitet hatte, den wir kannten: Kurt Steimen!  Der Jungsang war also auch sein Jungsang!

Aus dem Jungsang haben wir sicher das eine oder andere Lied gelernt.

Und neben dem Singen gab's ja noch die Theorie! Wie zeichnet man einen Notenschlüssel, zum Beispiel. Und wie heissen die Noten und wo kommen sie hin auf diesen ordentlichen fünf Linien im Heft, das ganz anders aussah als die andern Hefte, die wir hatten.

Singen wäre kein Schulfach, wenn es nicht auch Prüfungen gegeben hätte. An jenem Dienstag etwa, dem 29. Februar 1972, dem Kalendertag, den es dieses Jahr, fünfzig Jahre später, nicht gibt, und der mir den Rückblick auf die damalige Zeit leicht erschwert. Bis zum 28. Februar war die Welt eine einfache: die Tage stimmten überein. Der 28. Februar 1972 war ein Montag, und auch der 28. Februar 2022 war ein Montag. Und dann kam eben jener Schalttag, den es 2022 nicht gibt, und der die ganze schöne Parallelität leicht verschrägt. Und ausgerechnet an diesem Tag, den es dieses Jahr nicht gibt, hat Steimen eine Prüfung angesetzt.

Was wir genau tun mussten während der Prüfung, erschliesst sich mir heute nicht auf den ersten Blick. Wer sich in Musik auskennt, könnte von den Antworten vermutlich Rückschlüsse auf die Fragen ziehen. Aber offenbar habe ich damals gut gelernt und schön gezeichnet, die Note war erfreulich.

Fünfzig Jahre später und nur ein paar wenige Tage mehr, am 7. März 2022, ist Kurt Steimen gestorben. Ich hatte ihn noch treffen wollen, damit er mir etwas erzählt von damals, und wie sich die Welt in seinen Augen seither verändert hat. Jetzt ist es zu spät.