Wie der Bär im Zoo

Weshalb gehen wir in die Schule? Zum Lernen. 'Nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernen wir.' Das kann man auch auf Lateinisch haben, der Spruch ist alt und hat wohl schon etwas für sich. Schon klar. Dafür sitzt man im Schulzimmer.

Aber wenn es läutet, wenn die Glocke schellt, dann verlässt man das Schulzimmer. Weil man in ein anderes gehen muss, zu einem anderen Lehrer. (Ich kann das gut so sagen: 'Lehrer'. Wenn ich 50 Jahre jünger wäre und im Jahr 2071 auf meine Erlebnisse im Jahr 2021 zurückblickte, würde ich sagen: …zu einer anderen Lehrerin.) Aus der Logik des Lernens-fürs-Leben ist das folgerichtig: von einem Lernen zum nächsten. Und doch: Hier fehlt etwas, wird etwas übersprungen, das so sehr zur Schule gehört wie das Lernen – wenn nicht sogar noch viel mehr: die Pause.

Im Stundenplan sind die Pausen nicht vermerkt. Man kann sie nur indirekt erschliessen, wenn man auf dem Stundenplan die Zeiten ansieht; wenn man sieht, dass im Sommer 71 am Freitagmorgen der Deutsch-Unterricht nicht nahtlos in die Algebra überging: Punkt 10 war fertig Caduff, und Bundi begann erst eine Viertelstunde später, um 10:15. Nicht, dass die beiden Zimmer einen Kilometer auseinander gewesen wären, dass wir uns deshalb auf einen Spaziergang zwischen den Zimmern der beiden Bündner aufgemacht hätten. Aber auf einen Spaziergang: das durchaus!

Denn vor dem Schulhaus war der Schulhausplatz. Ein enormer Platz. Und eine prächtige Weide für die Augen. Der Pausenplatz. Dutzende, die nach draussen drängen, die schwere Tür geht eine ganze Weile gar nicht mehr zu, sie alle, die eben noch meist gesittet in Reih und Glied sassen, den Blick in die gleiche Richtung, nach vorn, dorthin, wo die Quelle des Lernens sass oder stand: sie alle strömen jetzt nach draussen.

Und dann waren sie plötzlich draussen, es wurde laut, die Jüngeren rannten teils noch umher. Aber wir waren nicht mehr die Jüngeren, uns stand der Mut nicht mehr nach Rennen und Lärmen. Wir hielten Ausschau.

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Wenn wir es besser gewusst hätten, hätten wir vielleicht gesagt, wir flanieren die Promenade hoch und runter und wieder hoch. Aber wir wussten es noch nicht. Was wir wussten, war, dass das, was wir taten, auch der Bär im Zoo tat, den Gitterstäben entlang laufen und dabei die ganze Länge seines kurzen Auslaufs nutzen, dann wenden und wieder zurück und wieder wenden und wieder zurück. Und immer die Augen offen, ob sich draussen, in der Freiheit, etwas tut.

Auch wir liefen hin und her, wie der Bär im Zoo.

Und wir waren nicht allein. Auch andere hatten den Zauber der verstohlenen Blicke entdeckt. Natürlich: entscheidend war, welche Bahn man zog: Ausschau halten und sich in den Strom der Bärinnen oder Bären einreihen, dann los, zu viert nebeneinander, blöd reden miteinander und zeigen, dass man es lustig hat im Käfig des Schulhausplatzes. Den Lauf womöglich noch justieren und leicht abbremsen, wenn die Bahnen der Kometen sich einander nähern. Den Blick dann lösen von den Freunden und ihn nach aussen richten, auf die Bahn derjenigen, die nun gleich vorbeiziehen würde, und hoffen, dass auch sie ins Gravitationsfeld eintritt. Und wenn die Blicke sich dann – hoffentlich – gekreuzt hatten: wieder loslassen, sich den Freunden zuwenden und den Gang beschleunigen.

Dabei war das, was man schnell einmal als Öde erkennen könnte – die ewige Wiederholung des Auf und Ab der Bären im Zoo, das erst durch das neuerliche Schellen der Pausenglocke beendet werden würde –, der eigentliche Reiz des Ganzen: denn je höher die Zahl der Runden, die wir drehten, desto grösser die Aussicht auf solch köstliche Blicke.

Wir gehen fürs Lernen in die Schule, ja. Aber nicht nur.

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Zum August 1971 / 12.8.2021