Am Donnerstagnachmittag immer: Kadetten

Vor Längerem war ich einmal unterwegs mit einer Gruppe in sehr unübersichtlichem Gelände. Ich hatte die Aufgabe übernommen, mit der Karte den Weg zu finden. Unterwegs fragte mich einer aus der Gruppe etwas beunruhigt, ob ich denn wisse, wo wir seien. Ich sagte ihm, wir müssten jetzt nur noch etwa fünf Minuten den eingeschlagenen Weg entlang gehen, dann kämen wir an den Rand des Waldes, und von dort aus sehe man dann linkerhand auf einen Rebberg. Der Kollege zog die Stirn in Falten und fragte nicht weiter. Als wir dann nach fünf Minuten vom Waldrand aus linkerhand den Rebberg sahen, machte er grosse Augen und hielt mich für einen Propheten. Ich sagte ihm nur: du warst vermutlich nie in den Kadetten.

Ja, Kartenlesen habe ich 'in den Kadetten' gelernt. Wir haben damals tatsächlich so gesagt: Am Donnerstagnachmittag 'hatten wir Kadetten'. Das heisst, eigentlich: Kadetten-Unterricht. Und wenn ich mir das jetzt nach 50 Jahren zum ersten Mal überlege, so müsste man sagen: wir waren Kadetten.

Aber die Kadetten waren schon während unserer Schulzeit nicht mehr die Kadetten von anno dazumal. Wir hatten sie verpasst – und waren schliesslich fast die letzten, die noch 'Kadetten hatten'.

Verpasst: Im Estrich im Bezirksschulhaus gab es Hinweise, dass die Kadetten einmal ganz anders waren als jene, die wir kannten: Im Estrich lagerten Kadettengewehre samt Munition; Säbel lagen herum, die die Kadetten bei Paraden getragen hatten; vielleicht noch anderes, woran ich mich nicht mehr erinnere. All das zeugte vom militärischen Wesen der Kadetten. Und sooo lang war das damals noch nicht her.

Auf der Suche nach jemandem, der die alten Kadetten noch kannte, bin ich bei stayfriends auf Synes Ernst gestossen, einen ehemaligen Journalisten und Experten für Spiele. Er hat die Bezirksschule in Bremgarten genau 10 Jahre vor uns besucht. Abschlussjahrgang 1963.

Auffällig damals: Wer im Kadettenunterricht war, hatte eine Uniform. Sie war obligatorisch, die Eltern der Buben hatten sie zu kaufen. Hemd, Hose (Knickerbocker!) und Kittel aus grauem, leicht gemustertem Stoff, dazu eine Mütze. Etwa so, wie auf einem Bild von 1949:

Foto von 1949. Aargauer Zeitung 12.4.2021

Aber nicht nur die Uniform war dem Militär nachempfunden; auch die Organisation der Kadetten. Alle Schüler einer Schule – natürlich nur die Buben – bilden ein Korps mit einer oder mehreren Kompanien; aus jeder Klasse wird ein Zug; pro Zug gibt es ein paar Gruppen. Und alle 'Formationen' mit entsprechenden Chefs: der Hauptmann als Chef einer Kompanie, der Leutnant als Zugführer, der Korporal als Gruppen-Chef. Synes Ernst:

Aber das Militärische hat Synes Ernst – immerhin Leutnant seiner Klasse! – gar nicht so stark in Erinnerung. Das Militärische sei in Bremgarten, generell im Freiamt, weniger stark ausgeprägt gewesen als in Aarau oder weiter westlich im Kanton.

Synes Ernst, Bez Bremgarten bis 1963

Bestens in Erinnerung seien ihm dagegen die Orientierungsläufe in der Gegend um Bremgarten – zum Teil in Uniform! In den Kadetten habe er gelernt, Karten zu lesen.

Geblieben sind ihm vor allem zwei Ereignisse: ein Abstecher in die Reuss und einer in ein Brennnesselfeld.

Ein spezielles Erlebnis war für Synes Ernst auch der Eidgenössische Kadetten-Tag in Thun, 1962. Die Wettkämpfe dort, die Siegerehrungen, die Heimfahrt mit dem Extrazug durchs Emmental, der Empfang in Bremgarten mit der Stadtmusik, der Blumenstrauss, den er als Zugführer-Leutnant – Kadettenchef seiner Klasse – erhalten hat von Marianne Müller aus Eggenwil, die er kannte vom Schulweg, und wie er mit diesem Strauss dem Zug voran durchs Städtchen schritt: das sei wohl das Offiziellste, was er in den Kadetten erlebt habe.

Und bei uns? Keine Uniformen mehr, keine militärischen Einteilungen, kein Kadettentag. Wie knapp wir allerdings den Uniformen entgangen sind, zeigt eine Stellungnahme von Lehrer Rohr in der Schülerzeitung vom Herbst 1970:

Schülerzeitung Nr. 2, Herbst 1970

Erst im Herbst 1970 also werden die Uniformen "offiziell" abgeschafft. Inoffiziell war es wohl schon etwas länger. Wir haben die Uniformen jedenfalls nicht mehr kennengelernt. Stattdessen sollten, so schrieb Rohr weiter, "rassige kurzärmlige Sportleibchen mit einem Signet und verschiedenfarbige Turnhosen" eingeführt werden – mehr dazu in der nächsten Schülerzeitung. In der nächsten Schülerzeitung war dann aber dazu nichts zu lesen – und auch die rassigen Sportleibchen und die verschiedenfarbigen Turnhosen hat man offenbar still und leise beerdigt. Auch sie haben wir nie kennengelernt. Wir gingen in die Kadetten mit dem gleichen Tenue wie ins Turnen. 

Trotzdem waren die Kadetten anders als das Turnen: Hier waren nicht Gleichaltrige unter sich, sondern wir waren vom Alter her gemischt: Jüngere und Ältere zusammen. Alle zusammen am Donnerstagnachmittag. Wenn sich in meinen Stundenplänen über die vier Jahre in Bremgarten nichts geändert hat, dann dies.

Stundenpläne 2. / 3. / 4. Klasse

Und die Älteren hatten gegenüber den Jüngeren durchaus noch eine Leitungsfunktion, sei es in den Mannschaftswettbewerben, sei es bei den Orientierungsläufen quer durch die Gegend. Und ja, eben: etwas, was auch mir von den 'Kadetten' geblieben ist: wie man eine topografische Karte liest.

Das Kantonale Schulgesetz von 1972 läutete dann das Ende der Kadetten ein, zumindest als obligatorischer Teil des Schulunterrichts. In den 528 Seiten des heutigen Aargauer Lehrplans kommt das Wort 'Kadetten' kein einziges Mal vor.

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Veröffentlicht: 1. März 2023